Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Hermann Hesse
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Tränen stiegen mir auf. Ich fühlte, daß ich mich loskaufen müsse, und griff verzweifelt in alle meine Taschen. Kein Apfel, kein Taschenmesser, gar nichts war da. Da fiel meine Uhr mir ein. Es war eine alte Silberuhr, und sie ging nicht, ich trug sie „nur so“. Sie stammte von unsrer Großmutter. Schnell zog ich sie heraus.
„Kromer,“ sagte ich, „hör, du mußt mich nicht angeben, das wäre nicht schön von dir. Ich will dir meine Uhr schenken, sieh da; ich habe leider sonst gar nichts. Du kannst sie haben, sie ist aus Silber, und das Werk ist gut, sie hat nur einen kleinen Fehler, man muß sie reparieren.“
Er lächelte und nahm die Uhr in seine große Hand. Ich sah auf diese Hand und fühlte, wie roh und tief feindlich sie mir war, wie sie nach meinem Leben und Frieden griff.
„Sie ist aus Silber —“ sagte ich schüchtern.
„Ich pfeife auf dein Silber und auf deine alte Uhr da!“ sagte er mit tiefer Verachtung. „Laß du sie nur selber reparieren!“
„Aber Franz,“ rief ich zitternd vor Angst, er möchte weglaufen. „Warte doch ein wenig! Nimm doch die Uhr! Sie ist wirklich aus Silber, wirklich und wahr. Und ich habe ja nichts anderes.“
Er sah mich kühl und verächtlich an.
„Also du weißt, zu wem ich gehe. Oder ich kann es auch der Polizei sagen, den Wachtmeister kenne ich gut.“
Er wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn am Ärmel zurück. Es durfte nicht sein. Ich wäre viel lieber gestorben als alles das zu ertragen, was kommen würde, wenn er so fortginge.
„Franz,“ flehte ich heiser vor Erregung, „mach doch keine dummen Sachen! Gelt, es ist bloß ein Spaß?“
„Jawohl, ein Spaß, aber für dich kann er teuer werden.“
„Sag mir doch, Franz, was ich tun soll! Ich will ja alles tun!“
Er musterte mich mit seinen eingekniffenen Augen und lachte wieder.
„Sei doch nicht dumm!“ sagte er mit falscher Gutmütigkeit. „Du weißt ja so gut Bescheid wie ich. Ich kann zwei Mark verdienen, und ich bin kein reicher Mann, daß ich die wegwerfen kann, das weißt du. Du bist aber reich, du hast sogar eine Uhr. Du brauchst mir bloß die zwei Mark zu geben, dann ist alles gut.“
Ich begriff die Logik. Aber zwei Mark! Das war für mich so viel und unerreichbar wie zehn, wie hundert, wie tausend Mark. Ich hatte kein Geld. Es gab ein Sparkästlein, das bei meiner Mutter stand, da waren von Onkelbesuchen und solchen Anlässen her ein paar Zehn- und Fünfpfennigstücke drin. Sonst hatte ich nichts. Taschengeld bekam ich in jenem Alter noch keines.
„Ich habe nichts,“ sagte ich traurig. „Ich habe gar kein Geld. Aber sonst will ich dir alles geben. Ich habe ein Indianerbuch, und Soldaten, und einen Kompaß. Ich will ihn dir holen.“
Kromer zuckte nur mit dem kühnen, bösen Mund und spuckte auf den Boden.
„Mach kein Geschwätz!“ sagte er befehlend. „Deinen Lumpenkram kannst du behalten. Einen Kompaß! Mach mich jetzt nicht noch bös, hörst du, und gib das Geld her!“
„Aber ich habe keins, ich kriege nie Geld. Ich kann doch nichts dafür!“
„Also dann bringst du mir morgen die zwei Mark. Ich warte nach der Schule unten am Markt. Damit fertig. Wenn du kein Geld bringst, wirst du ja sehen!“
„Ja, aber woher soll ich’s denn nehmen? Herrgott, wenn ich doch keins habe —“
„Es ist Geld genug bei euch im Haus. Das ist deine Sache. Also morgen nach der Schule. Und ich sage dir: wenn du es nicht bringst —“ Er schoß mir einen furchtbaren Blick ins Auge, spuckte nochmals aus und war wie ein Schatten verschwunden.
Ich konnte nicht hinaufgehen. Mein Leben war zerstört. Ich dachte daran, fortzulaufen und nie mehr wiederzukommen, oder mich zu ertränken. Doch waren das keine deutlichen Bilder. Ich setzte mich im Dunkel auf die unterste Stufe unsrer Haustreppe, kroch eng in mich zusammen und gab mich dem Unglück hin. Dort fand Lina mich weinend, als sie mit einem Korb herunterkam, um Holz zu holen.
Ich bat sie, droben nichts zu sagen, und ging hinauf. Am Rechen neben der Glastüre hing der Hut meines Vaters und der Sonnenschirm meiner Mutter, Heimat und Zärtlichkeit strömte mir von allen diesen Dingen entgegen, mein Herz begrüßte sie flehend und dankbar wie der verlorene Sohn den Anblick und Geruch der alten heimatlichen Stuben. Aber das alles gehörte mir jetzt nicht mehr, das alles war lichte Vater- und Mutterwelt, und ich war tief und schuldvoll in die fremde Flut versunken, in Abenteuer und Sünde verstrickt, vom Feind bedroht und von Gefahren, Angst und Schande erwartet. Der Hut und Sonnenschirm, der gute alte Sandsteinboden, das große Bild überm Flurschrank, und drinnen aus dem Wohnzimmer her die Stimme meiner älteren Schwester, das alles war lieber, zarter und köstlicher als je, aber es war nicht Trost mehr und sicheres Gut, es war lauter Vorwurf. Dies alles war nicht mehr mein, ich konnte an seiner Heiterkeit und Stille nicht teilhaben. Ich trug Schmutz an meinen Füßen, den ich nicht an der Matte abstreifen konnte, ich brachte Schatten mit mir, von denen die Heimatwelt nicht wußte. Wieviel Geheimnisse hatte ich schon gehabt, wieviel Bangigkeit, aber es war alles Spiel und Spaß gewesen gegen das, was ich heut mit mir in diese Räume brachte. Schicksal lief mir nach, Hände waren nach mir ausgestreckt, vor denen auch die Mutter mich nicht schützen konnte, von denen sie nicht wissen durfte. Ob nun mein Verbrechen ein Diebstahl war oder eine Lüge (hatte ich nicht einen falschen Eid bei Gott und Seligkeit geschworen?) — das war einerlei. Meine Sünde war nicht dies oder das, meine Sünde war, daß ich dem Teufel die Hand gegeben hatte. Warum war ich mitgegangen? Warum hatte ich dem Kromer gehorcht, besser als je meinem Vater? Warum hatte ich die Geschichte von jenem Diebstahl erlogen? Mich mit Verbrechen gebrüstet, als wären es Heldentaten? Nun hielt der Teufel meine Hand, nun war der Feind hinter mir her.
Für einen Augenblick empfand ich nicht mehr Furcht vor morgen, sondern vor allem die schreckliche Gewißheit, daß mein Weg jetzt immer weiter bergab und ins Finstere führe. Ich spürte deutlich, daß aus meinem Vergehen neue Vergehen folgen mußten, daß mein Erscheinen bei den Geschwistern, mein Gruß und Kuß an die Eltern Lüge war, daß ich ein Schicksal und Geheimnis mit mir trug, das ich ihnen verbarg.
Einen Augenblick blitzte Vertrauen und Hoffnung in mir auf, da ich den Hut meines Vaters betrachtete. Ich würde ihm alles sagen, würde sein Urteil und seine Strafe auf mich nehmen und ihn zu meinem Mitwisser und Retter machen. Es würde nur eine Buße sein, wie ich sie oft bestanden hatte, eine schwere bittere Stunde, eine schwere und reuevolle Bitte um Verzeihung.
Wie süß das klang! Wie schön das lockte! Aber es war nichts damit. Ich wußte, daß ich es nicht tun würde. Ich wußte, daß ich jetzt ein Geheimnis hatte, eine Schuld, die ich allein und selber ausfressen mußte. Vielleicht war ich gerade jetzt auf dem Scheidewege, vielleicht würde ich von dieser Stunde an für immer und immer dem Schlechten angehören, Geheimnisse mit Bösen teilen, von ihnen abhängen, ihnen gehorchen, ihresgleichen werden müssen. Ich hatte den Mann und Helden gespielt, jetzt mußte ich tragen, was daraus folgte.
Es war mir lieb, daß mein Vater sich, als ich eintrat, über meine nassen Schuhe aufhielt. Es lenkte ab, er bemerkte das Schlimmere nicht, und ich durfte einen Vorwurf ertragen, den ich heimlich mit auf das andere bezog. Dabei funkelte ein sonderbar neues Gefühl in mir auf, ein böses und schneidendes Gefühl voll Widerhaken: ich fühlte mich meinem Vater überlegen! Ich fühlte,