Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Hermann Hesse
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„Aber ich habe und habe nicht mehr! Es war meine Sparkasse.“
„Das ist deine Sache. Aber ich will dich nicht unglücklich machen. Du bist mir noch eine Mark und fünfunddreißig Pfennig schuldig. Wann krieg’ ich die?“
„O, du kriegst sie gewiß, Kromer! Ich weiß jetzt nicht — vielleicht habe ich bald mehr, morgen, oder übermorgen. Du begreifst doch, daß ich es meinem Vater nicht sagen kann.“
„Das geht mich nichts an. Ich bin nicht so, daß ich dir schaden will. Ich könnte ja mein Geld noch vor Mittag haben, siehst du, und ich bin arm. Du hast schöne Kleider an, und du kriegst was Besseres zu Mittag zu essen als ich. Aber ich will nichts sagen. Ich will meinetwegen ein wenig warten. Übermorgen pfeife ich dir, am Nachmittag, dann bringst du es in Ordnung. Du kennst meinen Pfiff?“
Er pfiff ihn mir vor, ich hatte ihn oft gehört.
„Ja,“ sagte ich, „ich weiß.“
Er ging weg, als gehörte ich nicht zu ihm. Es war ein Geschäft zwischen uns gewesen, weiter nichts.
Noch heute, glaube ich, würde Kromers Pfiff mich erschrecken machen, wenn ich ihn plötzlich wieder hörte. Ich hörte ihn von nun an oft, mir schien, ich höre ihn immer und immerzu. Kein Ort, kein Spiel, keine Arbeit, kein Gedanke, wohin dieser Pfiff nicht drang, der mich abhängig machte, der jetzt mein Schicksal war. Oft war ich in unsrem kleinen Blumengarten, den ich sehr liebte, an den sanften farbigen Herbstnachmittagen, und ein sonderbarer Trieb hieß mich, Knabenspiele früherer Epochen wieder aufzunehmen; ich spielte gewissermaßen einen Knaben, der jünger war als ich, der noch gut und frei, unschuldig und geborgen war. Aber mitten hinein, immer erwartet und immer doch entsetzlich aufstörend und überraschend, klang der Kromersche Pfiff von irgendwoher, schnitt den Faden ab, zerstörte die Einbildungen. Dann mußte ich gehen, mußte meinem Peiniger an schlechte und häßliche Orte folgen, mußte ihm Rechenschaft ablegen und mich um Geld mahnen lassen. Das Ganze hat vielleicht einige Wochen gedauert, mir schien es aber, es seien Jahre, es sei eine Ewigkeit. Selten hatte ich Geld, einen Fünfer oder einen Groschen, der vom Küchentisch gestohlen war, wenn Lina den Marktkorb dort stehen ließ. Jedesmal wurde ich von Kromer gescholten und mit Verachtung überhäuft; ich war es, der ihn betrügen und ihm sein gutes Recht vorenthalten wollte, ich war es, der ihn bestahl, ich war es, der ihn unglücklich machte! Nicht oft im Leben ist mir die Not so nah ans Herz gestiegen, selten habe ich größere Hoffnungslosigkeit, größere Abhängigkeit gefühlt.
Die Sparbüchse hatte ich mit Spielmarken gefüllt und wieder an ihren Ort gestellt, niemand fragte danach. Aber auch das konnte jeden Tag über mich hereinbrechen. Noch mehr als vor Kromers rohem Pfiff fürchtete ich mich oft vor der Mutter, wenn sie leise zu mir trat — kam sie nicht, um mich nach der Büchse zu fragen?
Da ich viele Male ohne Geld bei meinem Teufel erschienen war, fing er an, mich auf andere Art zu quälen und zu benutzen. Ich mußte für ihn arbeiten. Er hatte für seinen Vater Ausgänge zu besorgen, ich mußte sie für ihn besorgen. Oder er trug mir auf, etwas Schwieriges zu vollführen, zehn Minuten lang auf einem Bein zu hüpfen, einem Vorübergehenden einen Papierwisch an den Rock zu heften. In Träumen vieler Nächte setzte ich diese Plagen fort und lag im Schweiß des Alpdruckes.
Eine Zeitlang wurde ich krank. Ich erbrach oft und hatte leicht kalt, nachts aber lag ich in Schweiß und Hitze. Meine Mutter fühlte, daß etwas nicht richtig sei, und zeigte mir viel Teilnahme, die mich quälte, weil ich sie nicht mit Vertrauen erwidern konnte.
Einmal brachte sie mir am Abend, als ich schon im Bett war, ein Stückchen Schokolade. Es war ein Anklang an frühere Jahre, wo ich abends, wenn ich brav gewesen war, oft zum Einschlafen solche Trostbissen bekommen hatte. Nun stand sie da und hielt mir das Stückchen Schokolade hin. Mir war so weh, daß ich nur den Kopf schütteln konnte. Sie fragte, was mir fehle, sie streichelte mir das Haar. Ich konnte nur herausstoßen: „Nicht! Nicht! Ich will nichts haben.“ Sie legte die Schokolade auf den Nachttisch und ging. Als sie mich andern Tages darüber ausfragen wollte, tat ich, als wüßte ich nichts mehr davon. Einmal brachte sie mir den Doktor, der mich untersuchte und mir kalte Waschungen am Morgen verschrieb.
Mein Zustand zu jener Zeit war eine Art von Irrsinn. Mitten im geordneten Frieden unseres Hauses lebte ich scheu und gepeinigt wie ein Gespenst, hatte nicht teil am Leben der andern, vergaß mich selten für eine Stunde. Gegen meinen Vater, der mich oft gereizt zur Rede stellte, war ich verschlossen und kalt.
Zweites Kapitel
Kain
Die Rettung aus meinen Qualen kam von ganz unerwarteter Seite, und zugleich mit ihr kam etwas Neues in mein Leben, das bis heute fort gewirkt hat.
In unsere Lateinschule war vor kurzem ein neuer Schüler eingetreten. Er war der Sohn einer wohlhabenden Witwe, die in unsere Stadt gezogen war, und er trug einen Trauerflor um den Ärmel. Er ging in eine höhere Klasse als ich und war mehrere Jahre älter, aber auch mir fiel er bald auf, wie allen. Dieser merkwürdige Schüler schien viel älter zu sein als er aussah, auf niemanden machte er den Eindruck eines Knaben. Zwischen uns kindischen Jungen bewegte er sich fremd und fertig wie ein Mann, vielmehr wie ein Herr. Beliebt war er nicht, er nahm nicht an den Spielen, noch weniger an Raufereien teil, nur sein selbstbewußter und entschiedener Ton gegen die Lehrer gefiel den andern. Er hieß Max Demian.
Eines Tages traf es sich, wie es in unsrer Schule hie und da vorkam, daß aus irgendwelchen Gründen noch eine zweite Klasse in unser sehr großes Schulzimmer gesetzt wurde. Es war die Klasse Demians. Wir Kleinen hatten biblische Geschichte, die Großen mußten einen Aufsatz machen. Während man uns die Geschichte von Kain und Abel einbläute, sah ich viel zu Demian hinüber, dessen Gesicht mich eigentümlich faszinierte, und sah dies kluge, helle, ungemein feste Gesicht aufmerksam und geistvoll über seine Arbeit gebeugt; er sah gar nicht aus wie ein Schüler, der eine Aufgabe macht, sondern wie ein Forscher, der eigenen Problemen nachgeht. Angenehm war er mir eigentlich nicht, im Gegenteil, ich hatte irgend etwas gegen ihn, er war mir zu überlegen und kühl, er war mir allzu herausfordernd sicher in seinem Wesen, und seine Augen hatten den Ausdruck der Erwachsenen — den die Kinder nie lieben — ein wenig traurig mit Blitzen von Spott darin. Doch mußte ich ihn immerfort ansehen, er mochte mir lieb oder leid sein; kaum aber blickte er einmal auf mich, so zog ich meinen Blick erschrocken zurück. Wenn ich es mir heute überlege, wie er damals als Schüler aussah, so kann ich sagen: er war in jeder Hinsicht anders als alle, war durchaus eigen und persönlich gestempelt, und fiel darum auf — zugleich aber tat er alles, um nicht aufzufallen, trug und benahm sich wie ein verkleideter Prinz, der unter Bauernbuben ist und sich jede Mühe gibt, ihresgleichen zu scheinen.
Auf dem Heimweg von der Schule ging er hinter mir. Als die anderen sich verlaufen hatten, überholte er mich und grüßte. Auch dies Grüßen, obwohl er unsern Schuljungenton dabei nachmachte, war so erwachsen und höflich.
„Gehen wir ein Stück weit zusammen?“ fragte er freundlich. Ich war geschmeichelt und nickte. Dann beschrieb ich ihm, wo ich wohne.
„Ah, dort?“ sagte er lächelnd. „Das Haus kenne ich schon. Über eurer Haustür ist so ein merkwürdiges Ding angebracht, das hat mich gleich interessiert.“
Ich wußte gar nicht gleich, was er meine, und war erstaunt, daß er unser Haus besser zu kennen schien als ich. Es war wohl als Schlußstein über der Torwölbung eine Art Wappen vorhanden, doch war