Elijah & seine Raben. Georg Sporschill

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Elijah & seine Raben - Georg Sporschill

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schaut auf das Meer hinaus und liest eine Stelle der Abschiedsreden. Als junger Student war ich erstmals dabei, und der Pater forderte mich heraus: »Erzähl uns eine Geschichte, damit wir die Stelle besser verstehen!« Ich war es gewohnt, die Bibel auf Griechisch und Hebräisch zu lesen, Jahreszahlen und historische Theorien zu studieren, aber ich stotterte nur herum, wenn es darauf ankam, zu erklären, was die Bibel für das Leben zu bedeuten hat. Die Herausforderung hat mir geholfen.

      Wer die folgenden Gedanken liest, sitzt mit uns zusammen in dieser bunten Runde auf der Stadtmauer. Am besten stellt man sich das Meer vor und den Sonnenuntergang und Moise, der zwischendurch trommelt und einen Scherz macht. Abwechselnd erzählen Georg Sporschill, seine langjährige Mitarbeiterin Ruth Zenkert, sein Studienfreund Josef Steiner und ich, sein junger Mitbruder im Jesuitenorden, eine Geschichte zu dem Bibelvers, den wir gerade gelesen haben. Ruth Zenkert hatte die Idee, diese Geschichten aufzuschreiben und als »Bimails« an Freunde zu verschicken; wöchentlich erscheinen sie auch in der Tageszeitung Die Presse. Unter unseren Freunden möchte ich Brigitte Hilzensauer danken; sie hat die Bimails mit großem Einfühlungsvermögen lektoriert.

      Die folgenden hundertundein Bimails beziehen sich jeweils auf eine Stelle der johannäischen Abschiedsreden (außer zwei Weihnachts-Bimails, die aus der Reihe tanzen, vgl. Seite 31 und 194). Die ersten Texte schrieben Georg Sporschill und Ruth Zenkert 2012, als sie gerade nach Siebenbürgen übersiedelt waren, um ihr neues Roma-Projekt Elijah zu beginnen; die letzten entstanden drei Jahre später, als das Projekt schon mehreren Dörfern ein neues Erscheinungsbild und Hoffnung auf eine lebendige Zukunft gegeben hatte.

      Bevor Elijah mit dem Feuerwagen zum Himmel fuhr, bat ihn sein engster Freund Elischa um etwas von seinem »Geist« oder »Atem« (hebräisch rūach). Bevor Jesus in den Tod ging, versprach er seinen Freunden den »Geist« (oder »Atem«, griechisch pneuma) seines Vaters. Als Sporschills ehemalige Straßenkinder in der Kapelle sangen und für ihre Freunde beteten, die noch auf der Straße oder in den Kanälen lebten, sind mir oft die Tränen gekommen; so stark wie selten sonst spürte ich da einen solchen »Atem«. Dieser himmlische »Geist« ist eine Kraft, die unsere soziale Intelligenz über ihre üblichen Grenzen hinaus beflügelt und tiefe soziale Gräben überwinden kann. Man spürt sie auch, wenn unser muslimischer Freund Ogi Violine spielt (vgl. Seite 220). »Is’ des nit schön?«, raunt mir Pater Sporschill in solchen Momenten zu. »Du musst doch zugeben, dass wir Jesuiten ein schönes Leben haben.«

      Für Elijah waren die Raben Lebensretter. Georg Sporschill hat oft Menschen, die am Rande der Gesellschaft und in bitterster Armut lebten, mit denen er seine Lebensaufgabe gefunden hat, als seine Lebensretter empfunden. Meinem Herzensfreund Georg wünsche ich starke kommende Jahre, um weiterzugeben, was uns wirklich wichtig ist.

      In unserer Krippe liegt ein Rabenkind

      Menschwerdung in Europa. Wer fordert von uns

      und gibt uns, was nicht zu kaufen ist?

      Georg Sporschill

      Die Raben brachten ihm Brot und Fleisch am Morgen

      und ebenso Brot und Fleisch am Abend.

      1 KÖNIGE 17,6

      Das ärgste Schimpfwort für die Roma-Bevölkerung in Rumänien ist cioara, es bedeutet so viel wie Krähen oder Raben. Kinder ärgern sich gegenseitig, wenn sie mit den Armen wippen und den Flügelschlag des Raben nachahmen. So zeigen sie dem anderen: Du bist ein Kind von Rabeneltern, du bist ein Zigeuner.

      Den Raben wird oft Unrecht getan, vor allem ihren Eltern. »Wer bereitet dem Raben seine Nahrung, wenn seine Jungen zu Gott schreien und umherirren ohne Futter?« (Ijob 38,41).

      Seit Luther diesen Text aus dem Alten Testament interpretierte, spricht man abwertend von Rabeneltern und Rabenmüttern. Biologen beobachten allerdings das Gegenteil, wenn junge Raben das Nest verlassen und unbeholfen erste Schritte versuchen. Ihre Eltern füttern die hungrigen Jungen wochenlang und schützen sie, bis sie fliegen können.

      Die Bibel adelt die Raben geradezu, weil sie einem Flüchtling zu überleben helfen. Als sich der Prophet Elijah vor dem ungerechten König in der Wüste verstecken musste, »brachten Raben ihm Brot und Fleisch am Morgen und ebenso Brot und Fleisch am Abend«. Auf rumänischen Ikonen wird der Prophet Elijah deshalb oft mit dem lebensrettenden Raben dargestellt. Und wir haben ihn als Symbol für unseren neuen Verein Elijah gewählt, weil wir das Zusammenleben mit der Roma-Bevölkerung suchen.

      In Ziegental/Tichindeal, das meine Gemeinde geworden ist, gibt es in der vierklassigen Volksschule nur noch Roma-Kinder. Die anderen Rumänen sind alt oder weggezogen. Die Roma-Familien mit ihren vielen Kindern leben in bitterer Armut und Verwahrlosung. Die vierzehnjährige Victoria schaut mich mit ihren funkelnden schwarzen Augen an und fragt, ob sie in der Bäckerei mithelfen dürfe, um für zu Hause Brot zu bekommen. Wenn sie Arbeit bekäme, könnte sie dem üblichen Schicksal entkommen: dass sie an einen älteren Mann vergeben werden muss. Eltern und Kinder kämpfen Seite an Seite ums Überleben. Wenn sie helfen dürfen, sind sie froh. Tagsüber kommen viele Kinder in unser Haus mit dem großen hellen Raum, wo es warm ist. Ein Brot mit Käse macht sie glücklich. Und dann ist Musikstunde, es wird getrommelt, getanzt und im Chor gesungen.

      Unter den fröhlichen Kindern denke ich oft an die einfache Rechnung, die Viktor Frankl aufstellte: Wir geben ihnen Brot, sie geben uns Sinn. Kein schlechtes Geschäft. Mir geht es wie einer jungen Volontärin, die nach einem Jahreseinsatz sagte: »Ich bin gekommen, um zu helfen. Viel mehr aber wurde mir geholfen.« Sie weiß jetzt, wie gut es ihr geht, wie reich sie ist und dass sie die Kraft hat, Leben zu retten. Ihr neues Selbstbewusstsein verdankt sie den Rabenkindern.

      Die Rabenkinder fordern, aber viel mehr noch schenken sie, was wir nicht kaufen können. Einen Frieden, den die Welt nicht geben kann. In unserer Krippe liegt in diesem Jahr ein Rabenkind, mit dem wir leben lernen müssen. Es hilft uns in Europa, Mensch zu werden.

      Von der kreativen Kraft des Selbstzweifels

      Welche Brüche meiner Biografie stellen meine Identität

      infrage? Welche Kräfte können sie freisetzen?

      Dominik Markl

      Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war,

       um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen …

      JOHANNES 13,1

      Charlie Chaplin, die wohl strahlendste Ikone des Humors im 20. Jahrhundert, erlebte eine Kindheit voller Traumata. Sein Vater war Alkoholiker und vernachlässigte die Kinder. Die alleinerziehende Mutter Hannah war so mittellos, dass Chaplin mit sieben Jahren in einem Londoner Workhouse arbeiten musste. Er wurde von seiner Mutter getrennt, kam in ein Waisenhaus, wurde misshandelt. Mit neun Jahren musste er erleben, wie Hannah erstmals eine Psychose erlitt, wohl verursacht durch schlechte Ernährung und Syphilis. Mit zwölf verlor Charlie seinen Vater; für Monate fühlte er sich vor Trauer unfähig zu atmen. Mit vierzehn musste er Hannah endgültig ins Irrenhaus bringen und ihr Schicksal akzeptieren. Inmitten dieses Desasters von Armut und Schicksalsschlägen entwickelte Chaplin sein Talent und seinen festen Willen, Komödiant zu werden. Als Achtzehnjähriger erlebte er seine ersten größeren Bühnenerfolge in London, sechs Jahre später folgte sein Filmdebüt in Los Angeles. Während des Ersten Weltkrieges brachte er die Welt als »The Tramp« zum Lachen, während des Zweiten Weltkriegs

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