Little Women. Vier Schwestern halten zusammen. Louisa May Alcott
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Jo diente bei Tante March, die schlecht zu Fuß war und eine flinke Person benötigte, die sich um sie kümmerte. Die kinderlose alte Dame hatte angeboten, eines der Mädchen zu adoptieren, als die Schwierigkeiten begannen, und sie war sehr gekränkt, als man ihr Angebot ablehnte. Andere Freunde mahnten die Marchs, dass sie jede Chance vertan hätten, im Testament der alten Dame berücksichtigt zu werden, doch die herzensguten Eheleute erwiderten nur: »Wir würden unsere Mädchen auch für ein Dutzend Erbschaften nicht hergeben. Ob reich oder arm, wir bleiben zusammen und erfreuen uns aneinander.«
Die alte Dame sprach eine ganze Weile nicht mit ihnen, doch als sie bei einer Bekannten zufällig Jo begegnete, fand sie Gefallen an ihrer drolligen Miene und ihrer unverblümten Art und schlug vor, sie als Gesellschafterin einzustellen. Auch wenn Jo das Angebot ganz und gar nicht gefiel, nahm sie die Stelle an, als sich nichts Besseres fand, und zur allgemeinen Überraschung kam sie mit ihrer aufbrausenden Verwandten erstaunlich gut zurecht. Hin und wieder kam es zu einem Ausbruch, und einmal ging Jo nach Hause und erklärte, sie halte es nicht länger aus. Aber Tante March lenkte jedes Mal schnell wieder ein und ließ so eindringlich um ihre Rückkehr bitten, dass Jo nicht Nein sagen konnte, weil sie die hitzige alte Dame tief im Herzen gern mochte.
Ich vermute, dass der eigentliche Anziehungspunkt für Jo eine ziemlich umfangreiche Bibliothek voller schöner Bücher war, die seit dem Tod von Onkel March vor sich hin staubte. Jo erinnerte sich noch an den freundlichen alten Herrn, der sie aus seinen dicken Wörterbüchern Eisenbahnen und Brücken bauen ließ, ihr Geschichten über die eigenartigen Bilder in seinen lateinischen Büchern erzählte und ihr Pfefferkuchen kaufte, wann immer er ihr auf der Straße begegnete. Der schummrige, verstaubte Raum mit den Büsten, die von den hohen Bücherregalen herunterstarrten, den gemütlichen Sesseln, Globen und – das Beste von allem – einem Wald aus Büchern, in dem sie wandern konnte, wie es ihr beliebte, machte die Bibliothek für Jo zu einer Insel der Glückseligkeit. Sobald Tante March ihren Mittagsschlaf hielt oder Besuch hatte, lief sie an diesen stillen Ort, rollte sich auf einem Polstersessel zusammen und verschlang Gedichte, Liebesgeschichten, Geschichts- und Reisebücher samt Bildern wie ein echter Bücherwurm. Doch wie jedes wahre Glück währte auch dieses nie lange, denn jedes Mal, wenn sie die zentrale Stelle eines Textes erreichte, die schönste Zeile eines Liedes oder das gefährlichste Abenteuer ihres Helden, rief todsicher eine schrille Stimme: »Josy-phine! Josy-phine!«, und sie musste ihr Paradies verlassen, um Garn aufzuwickeln, den Pudel zu waschen oder ihrer Tante stundenlang die Aufsätze von William Belsham vorzulesen.
Jo sehnte sich danach, etwas wirklich Großartiges zu tun. Sie wusste noch nicht, was, baute aber darauf, dass es sich mit der Zeit schon ergeben würde. In der Zwischenzeit war ihr größter Kummer, dass sie nicht nach Herzenslust lesen, toben und reiten konnte. Ihr hitziges Temperament, die scharfe Zunge und ihr unruhiger Geist brachten sie immer wieder in Schwierigkeiten, sodass ihr Leben aus einem ständigen Auf und Ab bestand, das ebenso lustig wie beschämend war. Die Erziehung, die sie bei Tante March erhielt, war daher genau das, was sie brauchte, und der Gedanke, dass sie zu ihrem eigenen Unterhalt beitrug, machte sie trotz der ewigen »Josyphine«-Rufe glücklich.
Beth war zu schüchtern, um zur Schule zu gehen. Sie hatte es versucht, litt aber so sehr darunter, dass sie es wieder aufgab und von ihrem Vater zu Hause unterrichtet wurde. Als er fortging und ihre Mutter gebeten wurde, ihre Kraft und Fähigkeiten den soldatischen Hilfsorganisationen zur Verfügung zu stellen, führte Beth ihre Studien so gut sie konnte allein fort. Sie war ein eher häusliches Wesen und half Hannah, das Heim für die Berufstätigen sauber und gemütlich zu halten, ohne im Gegenzug mehr als Liebe zu verlangen. Ihre Tage waren lang und still, aber weder einsam noch müßig, denn ihre kleine Welt war voller Fantasiefreunde, außerdem war sie von Natur aus umtriebig. Sie besaß sechs Stoffpuppen, die jeden Morgen aus dem Bett geholt und angezogen werden mussten, denn Beth war noch sehr kindlich und liebte ihre Puppen wie eh und je. Es war nicht eine besonders schöne darunter, alle waren sie Verstoßene gewesen, bis Beth sie aufnahm, denn sobald ihre großen Schwestern aus dem Puppenalter herauswuchsen, gingen deren einstige Schätze an Beth über. Amy wollte nichts Altes oder Hässliches haben. Dafür liebte Beth sie umso mehr und gründete sogar ein Krankenhaus für altersschwache Puppen. Alle wurden gefüttert und angezogen, versorgt und mit nie enden wollender Zärtlichkeit geherzt. Das jämmerlichste Überbleibsel der Puppenära hatte Jo gehört, ehe es von Beth gerettet und in Obhut genommen wurde. Da der Kopf der Puppe oben aufklaffte, befestigte sie eine hübsche kleine Kappe darauf, und da auch sämtliche Arme und Beine fehlten, versteckte Beth diese Mängel unter einer Decke und legte die chronisch Kranke in ihr bestes Puppenbett. Jedem Menschen wurde das Herz aufgehen, wenn er wüsste, wie viel Fürsorge dieses Püppchen erfuhr. Beth brachte ihm kleine Blumensträuße, nahm es unter ihrem Mantel versteckt mit an die frische Luft, sang ihm Schlaflieder und ging nie zu Bett, ohne sein kleines Gesicht zu küssen und ihm zärtlich zuzuflüstern: »Ich hoffe, du kannst gut schlafen, meine arme Joanna.«
Beth hatte ihre eigenen Kümmernisse, genau wie alle anderen, und da sie kein Engel war, sondern ein sehr menschliches kleines Mädchen, »verdrückte sie oft ein paar Tränchen«, wie Jo es nannte, weil sie weder Musikstunden nehmen noch ein besseres Klavier haben konnte. Sie liebte die Musik so sehr, gab sich beim Üben solche Mühe und spielte so geduldig auf dem misstönenden alten Instrument der Familie, dass man wirklich meinen könnte, jemand (und das soll jetzt keine Anspielung auf Tante March sein) müsste ihr unter die Arme greifen. Doch niemand tat es, und niemand sah, wie Beth, wenn sie allein war, die Tränen von den vergilbten Tasten wischte, die so hoffnungslos verstimmt waren. Sie sang bei der Arbeit wie eine kleine Lerche, wurde nie müde, für Marmee und die Schwestern zu spielen, und sagte sich jeden Tag aufs Neue: »Ich weiß, wenn ich brav bin, darf ich irgendwann nach Herzenslust musizieren.«
Es gibt viele Beths auf dieser Welt. Schüchtern und still sitzen sie in der Ecke, bis sie gebraucht werden, und sie leben mit solcher Freude für andere, dass niemand ihre Opfer bemerkt, bis das kleine Heimchen am Herd nicht mehr zirpt, das süße, sonnige Wesen verschwindet und Stille und Schatten zurücklässt.
Hätte irgendjemand Amy nach der größten Herausforderung in ihrem Leben gefragt, hätte sie sofort geantwortet: »Meine Nase.« Jo hatte sie als Baby aus Versehen in einen Kohleeimer fallen lassen, und Amy behauptete beharrlich, dass der Sturz ihre Nase für immer verunstaltet habe. Sie war weder groß noch rot wie die des armen Jacob im Märchen vom »Zwerg Nase«, sie war einfach nur ziemlich flach, und alles Kneifen dieser Welt konnte aus ihrer Knubbelnase keine aristokratische machen. Niemand außer Amy störte sich daran, außerdem gab sich ihre Nase alle Mühe zu wachsen, aber Amy wollte unbedingt ein griechisches Profil, das