Little Women. Vier Schwestern halten zusammen. Louisa May Alcott
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»Liebe Zeit, ich wusste nicht, dass jemand hier ist!«, stammelte sie und machte Anstalten, genauso schnell wieder zu verschwinden, wie sie gekommen war.
Aber der Junge lachte nur, und obwohl er ein wenig erschrocken aussah, sagte er freundlich: »Kümmern Sie sich nicht um mich und bleiben Sie ruhig, wenn Sie möchten.«
»Störe ich denn nicht?«
»Kein bisschen. Ich bin nur hier hergekommen, weil ich kaum jemanden kenne und mich ein wenig fremd fühle.«
»Das geht mir genauso. Bitte bleiben Sie auch, wenn Sie möchten.«
Der Junge setzte sich wieder und schaute auf seine Schuhe, bis Jo, die sich Mühe gab, höflich zu sein, sagte: »Ich glaube, ich hatte schon mal das Vergnügen, Sie zu sehen. Sie leben ganz in unserer Nähe, nicht?«
»Nebenan.« Er hob den Kopf und lachte laut los, denn Jos steife Art wirkte ziemlich komisch, wenn er daran dachte, wie sie über Kricket geplaudert hatten, als er neulich die Katze zurückbringen wollte.
Damit war das Eis gebrochen, und Jo lachte ebenfalls. Mit großer Herzlichkeit sagte sie: »Wir haben uns so über Ihr nettes Weihnachtsgeschenk gefreut.«
»Großvater hat es geschickt.«
»Aber Sie haben ihn auf die Idee gebracht, nicht wahr?«
»Wie geht es Ihrer Katze, Miss March?«, fragte der Junge und versuchte ein ernstes Gesicht zu machen, während ihm der Schalk aus den Augen blitzte.
»Gut, vielen Dank, Mr. Laurence. Aber ich bin keine Miss March, sondern einfach nur Jo«, erwiderte die junge Dame.
»Und ich bin nicht Mr. Laurence, sondern einfach nur Laurie.«
»Was für ein seltsamer Name: Laurie Laurence.«
»Eigentlich heiße ich Theodore mit Vornamen, aber das gefällt mir nicht, weil ich von den anderen Jungen immer nur Dora genannt wurde, also habe ich sie dazu gebracht, mich Laurie zu nennen.«
»Ich finde meinen Namen auch grässlich, und so sentimental! Ich wünschte, alle würden mich Jo nennen statt Josephine. Wie hast du die Jungen dazu gebracht, dich nicht mehr Dora zu nennen?«
»Ich habe sie verdroschen.«
»Tante March kann ich nicht verdreschen, also muss ich es wohl ertragen.« Jo gab sich seufzend geschlagen.
»Willst du denn nicht tanzen, Miss Jo?«, fragte Laurie, der aussah, als gefalle ihm dieser Name.
»Ich tanze schon ganz gern, wenn es genug Platz gibt und es zwanglos ist. Aber an Orten wie diesem stelle ich bestimmt etwas an, trete anderen Leuten auf die Füße oder tue sonst etwas Schreckliches. Also halte ich mich lieber zurück und lasse Meg durch die Gegend wirbeln. Und du? Tanzt du denn nicht?«
»Nur manchmal. Ich war einige Jahre im Ausland und noch nicht genug unter Leuten, um zu wissen, wie es hier zugeht.«
»Im Ausland!«, rief Jo. »Oh, bitte erzähl mir davon! Ich liebe es, wenn Leute von ihren Reisen erzählen.«
Laurie schien nicht zu wissen, wo er anfangen sollte, aber Jos neugierige Fragen lösten ihm bald die Zunge. Er erzählte ihr, dass er in Vevey in der Schweiz zur Schule gegangen war, wo die Jungen niemals Hüte trugen, jede Menge Boote am Genfer See liegen hatten und in den Ferien mit ihren Lehrern Wanderungen machten.
»Ich wünschte, ich wäre dort gewesen!«, rief Jo. »Warst du auch in Paris?«
»Dort haben wir den letzten Winter verbracht.«
»Kannst du Französisch?«
»In Vevey durften wir nichts anderes sprechen.«
»Sag etwas! Ich kann es lesen, aber nicht sprechen.«
»Quel nom a cette jeune demoiselle en les pantoufles jolies?«, sagte Laurie bereitwillig.
»Wie schön das klingt! Lass mal sehen – du hast gesagt: ›Wer ist die junge Dame mit den hübschen Schuhen‹, nicht wahr?«
»Oui, Mademoiselle.«
»Das ist meine Schwester Margaret, und das wusstest du schon! Findest du sie hübsch?«
»Ja, sie erinnert mich an die Mädchen in Deutschland. Sie sieht so schick und dezent aus und tanzt wie eine Dame.«
Jo strahlte vor Freude über dieses Lob für ihre Schwester und prägte es sich ein, damit sie es Meg später erzählen konnte. Die beiden schauten, kommentierten und plauderten, bis sie das Gefühl hatten, sich schon ewig zu kennen. Lauries Schüchternheit verflog schnell, denn Jos burschikose Art amüsierte ihn und nahm ihm die Befangenheit. Auch Jo war wieder sie selbst und ihr Kleid vergessen, weil niemand sie von oben herab behandelte. Der »junge Laurence« gefiel ihr besser denn je. Sie musterte ihn mehrmals, damit sie ihn ihren Schwestern beschreiben konnte, denn sie hatten keine Brüder und nur wenige Cousins, sodass Jungen für sie praktisch unbekannte Wesen waren.
Schwarze Locken, braune Haut, große schwarze Augen, eine schöne Nase, gute Zähne, schmale Hände und Füße, größer als ich, sehr höflich für einen Jungen, und sehr, sehr lustig. Ich frage mich, wie alt er ist.
Sie wollte ihn schon danach fragen, ließ es im letzten Moment aber sein und versuchte es mit ungewöhnlich viel Taktgefühl auf Umwegen herauszufinden.
»Ich nehme an, du gehst bald aufs College? Ich sehe dich dauernd büffeln, ich meine, lernen.« Jo wurde rot vor Verlegenheit über das peinliche Wort, das ihr herausgerutscht war.
Laurie lächelte, wirkte aber keineswegs schockiert, sondern antwortete mit einem Schulterzucken. »Das dauert noch ein oder zwei Jahre. Ich gehe erst, wenn ich siebzehn bin.«
»Du bist erst fünfzehn?«, fragte Jo. Sie musterte den hoch aufgeschossenen Jungen, den sie für älter gehalten hatte.
»Sechzehn nächsten Monat.«
»Ich wünschte, ich könnte auch aufs College gehen! Aber du siehst nicht aus, als würdest du dich darauf freuen.«
»Ich hasse es. Das ist doch nur Schinderei und Geblödel. Außerdem gefällt es mir nicht, wie die Jungen hierzulande miteinander umgehen.«
»Was gefällt dir dann?«
»Ich würde gern in Italien leben und mich auf meine Weise vergnügen.«
Jo hätte sehr gern gefragt, wie seine Weise aussah, aber Lauries gerunzelte Augenbrauen wirkten so bedrohlich, dass sie lieber das Thema wechselte und ihn etwas anderes fragte, während sie im Takt mit dem Fuß wippte: »Das ist eine wunderbare Polka! Willst