Der Grenadier und der stille Tod. Petra Reategui
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Ohne auf Schnee und Kälte zu achten, läuft er die Morgenabendstraße entlang. Der Seifensiedemeister steht unter seiner Ladentür inmitten einer Wolke übel riechenden Laugendampfs und blickt den Passanten hinterher, die in die Wirtshäuser drängen, um das Ereignis des Tages zu begießen. Das Gesicht des Kaufmanns drückt Verständnislosigkeit aus, ja, fast so etwas wie Herzweh, als hätte er die junge Frau, die hingerichtet worden ist, gekannt. Vielleicht ist es ja so, vielleicht hat seine Beschützerin für den Seifenmacher gearbeitet, die Siederei geputzt, die Ware ausgeliefert. Er weiß es nicht.
Er weiß überhaupt so vieles nicht.
Bei einem Wetter wie heute braucht er nicht die Straßen zu kehren, er kann in dem kleinen Krug nahe dem Morgentor einen Schoppen trinken oder zwei. Es ist billig dort und der Wirt umgänglich, vielleicht weil er dem Mann hin und wieder hilft, Hof, Stall und Küche auszumisten, und mit jedem Geldstück, das dieser ihm gibt, zufrieden ist. Er tut stets so, als merke er nie, dass die meisten Gäste nichts mit ihm zu tun haben möchten, ja, dass sie geradewegs durch ihn hindurchschauen, wenn er zur Tür hereinkommt. Es ist so, es war schon immer so, und er bildet sich ein, dass es ihn nicht stört. Gestört hat ihn nur, als eines Tages der Tisch, an dem er für gewöhnlich saß, ein anderer war. Der neue ist kleiner als der vorherige. Es stehen auch nicht mehr vier Stühle daran, sondern nur noch einer. Hätte er sich beklagen sollen? Wie denn? Der Wirt ist gekommen, hat ihm versöhnlich einen Teller Suppe mit einem großen Brocken Fleisch darin hingestellt, für ganz umsonst, und mit hilflosen Gesten und schmalem Lippengekräusel zu erklären versucht, warum er den Tisch ausgewechselt hat. Begriffen hat er es nicht, hat die Kränkung geschluckt. Die Besuche in der Schenke wollte er sich nicht vermiesen lassen. Denn wenigstens die Weibsleute dort schauen ihn an. Zwei gefallen ihm.
Sie schauen oft zu ihm, necken ihn mit kleinen Gesten. Inzwischen weiß er, was sie wollen. Was sie von den Männern wollen. Mit der mit der kleinen Narbe auf der Wange ist er einmal mitgegangen, ins Stockwerk obendrüber. Er musste endlich wissen, was dort passiert. Und das Narbenmädchen hatte ihn neugierig gemacht. Alles an ihr war verlockend, ihre Augen von einer Farbe wie Wind und Regen, das duftende Haar, der runde Körper. Die Haut unter seinen Händen war sanft, aber mehr als tasten durfte er nicht. Und alles behielt sie an, Hemd und Rock, und durch die Stofffülle musste er sich erst hindurcharbeiten. Ein bisschen fühlte er sich betrogen. Er hätte sie gern ohne Kleider gesehen. Er wird es sich gut überlegen, bevor er das wenige Geld, das er hat, ein zweites Mal für so etwas ausgibt.
Heute ist sie nicht da, nur eine ältliche Matrone, die verdrießlich zu ihm herüberschielt. Das Weib erinnert ihn an die Mutter seiner Beschützerin.
Die jetzt nicht mehr ist.
Er hat die Freundin schon verloren gehabt, als sie noch lebte. Er kann sich nicht entsinnen, wann es passiert ist, dass sie sich veränderte. Als es ihm auffiel, war es zu spät. Nur wusste er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Sie war auf keinen mehr zugegangen, ließ niemanden mehr an sich heran, auch ihn nicht, sie hatte sich in einen unsichtbaren Kokon verkrochen und aufgehört zu lachen. Und was hatten sie doch miteinander gelacht, sie und er, als sie noch Kinder waren. Gespielt, gestritten und gelacht, und dann hatte sie ihm nachts die leuchtenden Punkte am Himmel gezeigt.
Es war eine warme Nacht gewesen, nur dass die Dunkelheit ihn ängstigte, die Dunkelheit, die alles verschluckt, Dinge, Häuser, Tiere, Gesichter, Gesten, jede Bewegung. Aber sie zerrte ihn mit, obwohl er nicht mitwollte und ihm Blut aus der Nase lief. Immer lief ihm Blut aus der Nase, wenn er Angst hatte. Und Angst hatte er oft. Weil er nicht begriff, was die Leute von ihm wollten oder mit ihm vorhatten.
Hat sie damals das Blut nicht gesehen, oder ist es ihr egal gewesen? Sie hat ihn einfach an der Hand gepackt und hinter sich hergezerrt, komm, schnell, und ohne dass er sich widersetzen konnte, rannte sie mit ihm durch die Gärten hinunter zum Steineschiffkanal bis zu der Stelle, wo die Stadt aufhört und jenseits des Wasserlaufs die Felder anfangen. Guck, zeigte sie mit dem ausgestreckten Finger nach oben, guck. Und hoch über ihnen glimmerten und gleißten die hellen Punkte, ein riesiges Funkengestöber, und dann schoss eines der Lichter über den Himmel und noch eines, und beide zogen eine dünne Linie, einen Schweif hinter sich her, und seine Beschützerin kniff ihm in den Arm vor Aufregung, und er hüpfte und sprang, bis sie sich lachend, aber auch irgendwie angeekelt, vielleicht von seinem wilden Gehopse, zuerst ihre Ohren zuhielt und ihm gleich darauf seinen Mund, er wusste nicht, warum. Als wenn da etwas Hässliches herauspurzelte. Er war beleidigt.
Doch dann hockten sie nebeneinander und zählten, wie viele Pünktchen durch die Nacht flogen, und mit einem Stock malte sie »5« in den Sand, dann »8«, dann »12«, mehr als er Finger an den Händen hat.
Sie war älter als er, vielleicht vier oder fünf Sommer. Er bewunderte sie, denn sie war stark. Eines Tages würde er so stark sein wie sie.
Und jetzt ist sie nicht mehr.
Er kann es nicht glauben. Er will es nicht glauben, auch wenn er sie heute nicht mehr braucht. Er ist kein Kind mehr, er blutet nicht mehr aus der Nase, er hat gelernt, mit dem Leben zurechtzukommen. Auf seine Art. Und der Fettwanst ist irgendwann gestorben, er weiß nicht, woran. Aber es interessiert ihn auch nicht.
Nur die Nächte sind ihm noch immer unangenehm. Wenn Bewegungen kaum zu sehen sind und die dunklen Schatten die Gesichter der Menschen schlucken.
2
Madeleine kannte die Frau nicht, die am Vormittag hingerichtet worden war, nein, keine Frau, ein junges Mädchen noch. Kaum älter als sie selbst. Das vor allem hatte sie erschreckt.
»’ne Kindsmörderin! Des müsse mer uns angugge gehe«, hatte die Oberhäusserin ihr entgegengerufen, als sie am frühen Morgen mit ihren Nüssen und dem Honig auf dem Carlsruher Markt eintraf, und ihr erster Gedanke war: Bestimmt eine Putano, eine Hure, eine, die ihren Bankert in der Alb ertränkt hat.
Oder eine, die das Neugeborene gehimmelt hatte, weil sie nicht wusste, wie sie es neben zehn anderen Bamsen auch noch ernähren sollte. »Man tut den Kleinen nicht unbedingt was Gutes, wenn man sie am Leben lässt«, hatte Madeleine einmal die Nonno zur Maïre sagen hören. Großmutter und Mutter ahnten nicht, dass sie hinter der Tür stand und lauschte. Und während die Nonno von Frauenkräutern faselte, von den geheimnisvollen petites grâces pour les femmes, Eisenkraut, Liebstöckel, den Früchten des Sadebaums, dachte sie an das Weib vom Grünwettersbacher Schweinehirten. Deren zwei Zuletztgeborene, hieß es, seien gestorben, kaum dass sie auf der Welt waren, alle beide, was für ein Zufall. Mädchen sollen es gewesen sein, Winzlinge. »Ja, die Engele sin bei Gott«, hatte die Frau geseufzt, als Madeleine ihr beim Wasserschöpfen am Fallbrunnen begegnet war und ihr Beileid aussprach. »Die Engele sin bei Gott, und dort obbe geht’s ene besser wie ihren armen Schwestern und Brüdern hier unten.«
Aber vielleicht tat sie dem Weib auch unrecht.
Eigentlich hatte Madeleine nicht mit der Oberhäusserin und den anderen Händlerinnen zur Hinrichtung gehen wollen. Nach dem Markt wollte sie nur noch schnell zum Tulpenwirt und von dort sofort zurück nach Palmbach. Die Strecke bis ins Dorf zog sich, sie kam ihr jetzt im Winter sogar noch länger vor als sonst, und der Weg durch den Wald nach oben auf die Höhe machte ihr Angst. Die Wärter am württembergischen Zoll würden dumme Fragen stellen, und die Maïre hätte schon gar kein Verständnis, wenn sie erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkäme.