Der Grenadier und der stille Tod. Petra Reategui

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Der Grenadier und der stille Tod - Petra Reategui Historischer Kriminalroman

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in der Tischrunde von einem zum anderen. Dann vernahm Madeleine sein belustigtes Kichern.

      »Sie hatten doch bestimmt alle Ihre kleinen Liebeleien? Nachbars Töchterchen, die Magd des Bäckers …«

      »Geh, hören Sie auf«, fiel einer dem Unbekannten ins Wort, der Stimme nach zu urteilen derselbe, der die überhandnehmende Unzucht beklagte. »Die Weiber wissen doch genau, wie sie uns rumkriegen, hinterlistig und raffiniert, wie sie sind. Dagegen kommt doch kein Mann an. Meiner Meinung nach müssen Kirche und Staat rigoros durchgreifen, soll unsere Gesellschaft nicht zugrunde gehen. Ich plädiere dafür, dass ab einem gewissen Alter die Geschlechter strikt voneinander getrennt werden. Kein Beisammensein von unverheirateten Frauen und Männern im selben Raum, keine gemeinsamen Spaziergänge ohne Aufsicht. Tanzveranstaltungen und sonstige vorgebliche Vergnügungen gehören verboten. Nur auf diese Weise lassen sich uneheliche Kinder und in der Folge davon die massenhaften Kindstötungen vermeiden.«

      »Massenhaft?«, höhnte der Vorredner, »ich höre immer ›massenhaft‹. Sie tun ja geradeso, als würde jeden Tag irgendwo im Land ein Neugeborenes umgebracht. Das ist ja nun nicht der Fall. Im Übrigen, verraten Sie mir, wie Sie es bewerkstelligen wollen, dass sich junge Männer und Frauen im Alltag nicht begegnen?«

      Der andere wollte etwas erwidern, aber der unbequeme Mahner kam jetzt richtig in Fahrt und ließ sich nicht unterbrechen.

      »Nein, meine Herren, das Problem ist ein anderes. Das Problem sind unsere Gesetze.«

      Er pausierte kurz, räusperte sich und sprach dann schnell weiter, bevor ihm jemand ins Wort fallen konnte.

      »Sie werden mir doch zustimmen, dass es die Aufgabe des Staates ist, für das Wohlergehen seiner Bewohner zu sorgen, nicht wahr? Aber was tut der Staat? Er hat sich der Moralauffassung der Kirche untergeordnet, predigt ein seltsames Gebot der Keuschheit und hat Heirats- oder besser gesagt Nicht-Heiratsregeln und Unzuchtsgesetze erlassen, die der Natur des Menschen spotten. Kein Mann, keine Frau ist imstande, solch widernatürliche Bestimmungen einzuhalten. Und so stehen wir vor der beklagenswerten Tatsache, dass die Natur ihren Lauf nimmt und Frauen, die dem Fürsten wertvolle Untertanen schenken, schenken könnten, meine Herren, im Namen dieser Vorschriften rücksichtslos einem fragwürdigen Anstandsbegriff geopfert werden. Eine hingerichtete Frau kann aber nun mal keine Kinder mehr gebären, und dem Fürsten entgehen auf diese Weise Tausende von zukünftigen Bürgern, Dienern, Knechten und Mägden. Damit muss Schluss sein. Die Gesellschaft muss umdenken. Wir brauchen Accouchierhäuser, wo Frauen gebären dürfen, ohne den Namen des Schwängerers oder ihren eigenen nennen zu müssen. Wir müssen unsere Fürsten an die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ›Landesvater‹ erinnern, damit sie sich, wie bei Waisenkindern, als wirkliche und fürsorgliche Väter zeigen und sich der unehelichen Kinder in Liebe annehmen. Und wir brauchen Säuglingsklappen. Andernorts gibt es das bereits, ich habe diese Einrichtungen in Italien gesehen, in Hospitälern und Klöstern, und mich von ihrem Segen für Mutter und Kind überzeugen können –«

      Aufgebracht fuhr der Befürworter der strikten Geschlechtertrennung dem Sprechenden in die Parade:

      »Damit sich die Weiber ihrer Verantwortung entledigen können! Das würde denen so passen. Mein Großvater, und ich versichere Ihnen, meine Herren, mein Großvater war ein Menschenfreund – er hat von so einer Lade erzählt, die seinerzeit, anno 1710, glaube ich, zur Vermeidung von Kindsmord in Hamburg aufgestellt wurde. Und wissen Sie, was passiert ist?«, posaunte er triumphierend über den Tisch. »Die Huren warfen ihre Bälger weg wie verschimmeltes Brot und freuten sich danach ihres Lebens. Das Ding musste abgebaut werden, denn jeden Abend lag so ein armes Kindchen in der Stellage.«

      »Überall Sodom und Gomorrha, …«, knurrte der schmallippige Militärkommandant.

      »Sag ich ja«, schimpfte der andere. »Es regieren Wollust und Liederlichkeit. Und überall schießen aufwieglerische Elemente mit neumodischen Ansichten wie Pilze aus dem Boden, befürworten gar, stellen Sie sich das vor, den vorehelichen Beischlaf. Wohin soll das führen? Solche Leute wollen den Untergang des Staates …«

      »Aber, Verehrtester, jetzt übertreiben Sie schon wieder«, warf die sonore Stimme ein, »vor ein paar Jahren hat selbst der Preußenkönig ein Edikt erlassen, wonach Schwängerungen außerhalb der Ehe nicht mehr geächtet werden dürfen und daher auch nicht zu bestrafen sind. Sie werden doch einem solch brillanten Staatsmann nicht Verantwortungslosigkeit und Unvernunft vorwerfen wollen –«

      »Jetzt reicht’s«, unterbrach ein Vierter die Streitenden, »genug disputiert. Sie sind dabei, mir den Appetit zu verderben. Haben Sie keinen Respekt vor diesem himmlischen Hasen, den der Wirt uns serviert hat? Schämen Sie sich!«

      »Ich weiß nicht«, hörte Madeleine eine Stimme, die sie nicht einordnen konnte, »ich finde, das Fleisch schmeckt heute anders als sonst, finden Sie nicht auch? Also nicht schlecht, meine ich, aber anders.«

      4

      Der Besuch in der »Tulpe« hatte sich gelohnt. Nicht nur wegen der warmen Mahlzeit. Guthschneider, der Wirt, nahm ihr auch die Hälfte des Honigs ab und einen kleinen Sack Nüsse.

      »Welsche Nüsse, sagen wir hier, weil sie von euch da unten kommen«, belehrte er Madeleine, und ob sie ihm nicht auch irgendwann Grumbiire bringen könne. »Erdäpfel, Kartoffeln«, setzte er ein wenig fahrig hinzu, weil Madeleine das Wort Grumbiire nicht verstand und im Speiseraum ein Gast nach ihm rief, dem er mit einem Wink zu verstehen gab, dass er sofort bei ihm sei. Wie denn ihre Leute in Palmbach zu Grumbiire sagten, wollte er dann aber doch noch wissen.

      »Trifulles«, erwiderte Madeleine, nachdem sie begriffen hatte, was er meinte, »manche sagen auch Pataques.«

      »Sie passen doch zum Braten?«

      »Aber ja, sie passen zu allem. Wir essen sie jeden Tag, mit ausgelassenem Speck, mit Fleisch und Kraut, in Suppen, zusammen mit Makkaroni.« Sie versprach, ihm welche zu bringen, und wollte sich verabschieden. Doch der Wirt hatte noch eine Bitte: Ob sie kurz bei der Medicinalratswitwe Wilde im Inneren Cirkel vorbeigehen könne? Eine feine Dame. Er habe ihr vom Palmbacher Honig vorgeschwärmt, und die Rätin wolle die Köstlichkeit probieren.

      Madeleine konnte. Natürlich.

      »Grumbiire«, wiederholte sie auf dem Weg zum Cirkel. Das Wort gefiel Madeleine, es war genauso schön wie »numme net huddle«. Grumbiire halt.

      Als die Waldenser vor mehr als siebzig Jahren ins Württembergische kamen, hätten nur wenige Deutsche gewusst, was Trifulles sind, hatte die Nonno erzählt. »Es wollte nicht in ihre Gehirne hinein, dass bettelarme Flüchtlinge wie wir auch etwas Gutes besaßen.«

      »Sì, sì«, hatte sie beteuert, als sie Madeleines skeptisches Gesicht sah. »Genauso misstrauisch, wie du jetzt schaust, sind auch die Grünwettersbacher um unsere Felder herumgeschlichen. Und dann haben diese Ignoranten doch tatsächlich die Blüten und Blätter gegessen und sich gewundert, dass ihnen speiübel wurde. Die dachten, wir wollten sie vergiften.«

      In Erinnerung daran hatte die Nonno ein bisschen gehässig ihre Lippen geschürzt.

      »Manchmal, méou baboch, manchmal hätte ich diese Leute mit ihren strohgelben Haaren wirklich gern umgebracht. Sie spuckten vor uns aus, wenn wir vorbeigingen, tuschelten hinter unserem Rücken, und die Kinder schmissen mit faulen Äpfeln.«

      Aber sie sei zu stolz gewesen, sich etwas anmerken zu lassen. Sie habe sich zusammengerissen und immer ein freundliches Gesicht gezeigt.

      »Doch hat meine Freundlichkeit etwas genutzt, frage ich dich. Obwohl wir jetzt schon so lange hier

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