Der Grenadier und der stille Tod. Petra Reategui
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Читать онлайн книгу Der Grenadier und der stille Tod - Petra Reategui страница 8
Und jetzt war es heute wieder so spät.
Vor ihr raschelte es im Unterholz. Etwas knackte. Unwillkürlich blieb Madeleine stehen, starrte in die Nacht, die sich übers Land gelegt hatte. Ein Tier? Gab es Wölfe in der Region? Oder Räuber? Waren letzte Woche nicht zwei Frauen auf dem Weg nach Durlach überfallen worden? Wie lange war sie überhaupt schon unterwegs? Zwei Stunden? Zweieinhalb? Befand sie sich überhaupt auf dem richtigen Weg? Hatte sie einen Abzweig übersehen?
Die holprige Straße, die lange Zeit an Feldern vorbeigeführt hatte, stieg jetzt merklich an, die Bäume rückten näher, wie eine undurchdringliche schwarze Mauer baute der Wald sich vor ihr auf. Madeleine hielt Ausschau nach einer vertrauten Wegmarke, nach dem großen Stein, hinter dem es in den Wettersbacher Wald hineinging. Nach der vom Blitz getroffenen Eiche, in deren Höhlen und Geäst Hexen und Gnome hausten. Sagten die Leute. Tagsüber glaubte Madeleine nicht an solches Gerede. Aber jetzt, in der Dunkelheit …
Wieder lauschte sie. Überall wisperte es.
»Tiere haben genauso viel Angst vor dir wie du vor ihnen«, sagte sie laut und zwang sich weiterzugehen.
Vielleicht wäre es ja besser, sie würde sich einfach hinsetzen, hinein in den Schnee. Angeblich ginge es schnell. Der Schnee wärme, man schlafe ein und wache nicht mehr auf. Vor zwei Jahren hatten sie in der Kälberklamm einen Holzfäller aus Busenbach gefunden, erfroren. Wahrscheinlich ungewollt, denn warum sollte ein Mann freiwillig den Tod suchen? Ein Mann wurde schließlich nicht schwanger.
Bekam man vom Küssen im Hardtwald ein Kind?
Es war nicht beim Küssen geblieben.
Madeleine wurde trotz der Kälte heiß. Sie stolperte vorwärts, kein Licht, nirgends, und der Grenadier Sobringer hatte sich seit jenem Nachmittag nicht mehr blicken lassen. Tränen liefen Madeleine übers Gesicht.
5
Die alte Matrone an der Theke, die ihn an die Mutter seiner Beschützerin erinnert, beäugt ihn schielend, zwinkert ihm zu, aber er bedeutet ihr mit der Hand, dass er nicht will. Vielleicht, wenn es das Narbenmädchen wäre … um unter der weichen Wärme ihres Kleids Vergessen zu finden … Andererseits ist er froh, dass sie nicht da ist. Sein Geld reicht nur für Brot und einen Teller Brühe, und er hat Hunger, gewaltigen Hunger.
Die Suppe, die er bekommt, füllt ihm den Bauch, aber nicht die Leere in ihm, die er seit dem Morgen auf dem Richtplatz verspürt. Eine Leere wie damals, als der Vater von ihm gegangen ist und ihn allein zurückgelassen hat. Er ist doch noch ein Kind gewesen.
An dem Tag, an dem der Vater sich hinlegte und nicht mehr aufstand, hat flirrende Hitze geherrscht. Überall im Haus, im Hof, im Abtritt, überm Wassertrog tanzten Flügeltierchen, ein besonders fettes krabbelte dem Vater über die Nase. Der machte keine Anstalten, es zu verjagen. Er musste es tun, wedelte mit den Händen vor dem Gesicht des Schlafenden herum, ohne dass dieser auch nur mit den Wimpern zuckte. Dann kamen Männer, legten den Vater in eine Kiste und verschlossen sie. Er verstand nicht. Wollte wissen, was mit dem Vater war. Aber sie schoben ihn beiseite wie einen Sack, der im Weg stand. Am Abend war die Mutter mit ihm an der Hand auf das Feld hinter dem großen Feierlichen Haus am Markt gegangen. Als andere Männer den Kasten an langen Seilen in ein Erdloch senkten, schaute er die Mutter fragend an, aber sie hatte ihn losgelassen und blickte ausdruckslos über seinen Kopf hinweg.
Der Vater fehlt ihm. Der Vater hat ihm immer alles erklärt. Dass er nicht ins Feuer langen darf, dass Messer scharf sind und er auf der Straße in alle Richtungen schauen und seine Augen offen halten muss, damit ihn die Wagen und großen Tiere nicht umreißen. Der Vater legt sich die Hände auf die Ohren, öffnet sie wieder, bewegt die Lippen. Tut das Gleiche bei ihm, verschließt seine Ohren, nimmt die Hände wieder fort, bedeutet ihm mit den Fingern, den Mund zu bewegen. Er tut es, sperrt den Mund auf, klatscht in die Hände, es ist ein lustiges Spiel, nur der Vater bleibt ernst. Da begreift er: Er hat andere Ohren und einen anderen Mund als der Vater. Was daran anders ist, weiß er nicht, versteht nur, dass der Vater, die Mutter, seine Schwestern, die Menschen auf der Straße über Ohren und Mund Dinge mitbekommen, die er nicht mitbekommt. Er versucht, ihre Lippenbewegungen nachzuahmen und zu erkennen, was sie damit meinen. Manchmal klappt es. Wenn der Vater seine Lippen zu einem Kreis formt und ihm winkt, weiß er, dass dieser ihn ruft. Oder dass der Vater »Wasser« meint, »geh Wasser holen!«, wenn er in einer bestimmten Art und Weise den Mund aufsperrt und ihm den Eimer in die Hand drückt. Jeden Tag übt der Vater mit ihm. Wasser, Löffel, Tisch, Stuhl, Brot, gestikuliert er. Und: ein Schuh, zwei Schuhe, und zeigt dazu Schuhe und einen oder, je nachdem, zwei Finger. Ein Teller, zwei Teller, drei Teller. Ein Licht, zwei Lichter, drei … und der Vater zündet die entsprechende Anzahl Kerzen an, doch die Mutter pustet sie wieder aus, erbost. Und er lernt: Kerzenlicht ist teuer. Damit darf man nicht spielen.
Eines Tages hat ihn der Vater mitgenommen zu dem hoch aufragenden Gebäude am anderen Ende des schnurgeraden Gässchens, in dem sie wohnen. Auf dem Dach war ein langer Stab angebracht, der in den Himmel zeigte, blinkte und ihn lockte. Dort hinauf wollte er und wie die kleinen und großen Flügeltierchen die Erde von oben schauen. Er hat den Vater so lange am Ärmel gezupft, bis dieser sich erbarmt hat und mit ihm dorthin gewandert ist.
Das Hohe Haus stand am Ende eines weiten Platzes. Davor und zu beiden Seiten lagen mehrere niedrigere Häuser. Schön waren sie, schöner als alle anderen Häuser, die er kannte. Das mittlere schien ihm das prächtigste zu sein. Männer und Frauen in eleganter Kleidung spazierten über die mit feinen Steinchen belegten Wege. Eine Kutsche fuhr vor und hielt vor der breitesten der Türen. Aus einer der Seitenpforten trat ein Mädchen mit einem mächtigen Henkelkorb, ein Tuch verdeckte, was darin lag. Doch als sie an ihm und dem Vater vorbeieilte, roch er den Duft von frischem, süßem Brot, wie es der Bäcker in ihrer Straße buk und von dem er nur träumen konnte.
Ein Herr lebt hier, bedeutete der Vater und malte mit einer Hand einen Hut auf dem Kopf, ein Großer Herr, der über alles herrscht. Und der Vater ließ seinen Arm in einer ausladenden Bewegung über die Stadt kreisen, über Gebäude, Straßen, Bäume, über Männer, Frauen und Kinder.
Noch am selben Tag bekam er den Großen Herrn zu sehen. Eine erwartungsvolle Menschenmenge hatte die lange Morgenabendstraße gesäumt. Der Vater hob ihn hoch und setzte ihn auf seine Schultern. Über die Köpfe hinweg sah er Männer in fast gleich aussehender Kleidung vorbeiziehen. An den bunten, sauberen Röcken schaukelten farbige Schnüre. Über den Schuhen trugen die Männer seltsame Unterbeinkleider und auf den Köpfen breitkrempige oder nach oben spitz zulaufende, manchmal metallisch glänzende Hüte. Der Vater drehte ihm, so gut es ging, den Kopf zu: die Männer des Großen Herrn, seine Bewacher, Wächter, Diener, verstand er.
Er beugte sich vor, um dem Auf und Zu von Vaters Mund zu folgen und dessen Bewegungen nachzuahmen. Da rollte die erste Kutsche vorüber. Und noch eine und noch eine. Die letzte war die prachtvollste. Fähnchen flatterten daran. Der Lenker auf dem Bock und die Männer, die den Wagen zu Fuß begleiteten, trugen die gleiche feine Kleidung wie die Vorab-Marschierer. In der Karosse aber saß, majestätisch aufrecht und freundlich winkend, der Große Herr. Der Große Herr war gekommen, ihn zu grüßen. Begeistert winkte er zurück.
So leicht wie mit dem Vater verstand er sich mit niemandem, selbst mit seiner Beschützerin nicht, obwohl diese ihm doch die Nachtlichter gezeigt und mit ihm Bilder in den Sand gemalt hat. Die Laterne am Himmel, die mal rund und dick wie eine Kugel war, dann wieder verschwindend dünn und schmal. Oder ein Gesicht mit Augen, Nase und Mund, sein Gesicht, oder ihren Kopf mit den langen Haaren. Manchmal auch einen Baum, ein Haus und die flitzenden