Der Grenadier und der stille Tod. Petra Reategui

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Der Grenadier und der stille Tod - Petra Reategui Historischer Kriminalroman

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es, die Mutter zu verstehen. Das heißt, er verstand sie, aber sie ihn nicht, und den Schwestern war er nur lästig. Die kicherten albern, äfften ihn nach und ließen ihn nicht mitspielen. Er streckte ihnen dafür die Zunge raus, zeigte ihnen eine lange Nase, und wenn sie dann immer noch nicht aufhörten, ihn zu ärgern, verprügelte er sie, bis die Mutter dazwischenfuhr und ihn schlug. Die Mutter schlug oft. Einmal sogar im Feierlichen Haus am Markt.

      Das war nach dem Tod des Vaters, die Mutter hatte ihn und die Schwestern dorthin mitgenommen. Für ihn war es das erste Mal, dass er das Haus von innen sah, und staunend stand er vor den mächtigen gekreuzten Holzbalken, die vorn im Raum in die Höhe ragten. Doch die Mutter zog ihn weg von dort und zu sich nach hinten.

      Mit einem Mal begann die Luft zu schwingen, zuerst sanft und zart, und schwoll schließlich an zu einem Beben und Zittern. Die Menschen öffneten die Münder und klappten sie wieder zu, auch die Mutter und die Schwestern taten es. Das Zittern erfasste seinen Körper, fuhr ihm in den Bauch, erfüllte ihn mit einem überwarmen Gefühl, und inbrünstig öffnete auch er den Mund. Ihm war, als spränge etwas Großartiges aus ihm heraus.

      Doch die Menschen stierten ihn an, entsetzt, empört, angewidert, einige feixten böse oder verlachten ihn. Die Schwestern schauten betreten zu Boden. Und die Mutter schlug zu. Schlug ihn auf den Mund, auf den Kopf, hätte vielleicht gar nicht mehr aufgehört mit Schlagen, wenn nicht eine Frau ihr in den Arm gefallen wäre. Heulend rannte er hinaus auf die Straße. Das Feierliche Haus hat er nie wieder betreten.

      Viele Tage später hatte ihn sein Vaterbruder nahe der Kiesgrube jenseits des Steineschiffkanals gefunden.

      Es war auch der Vaterbruder, der ihn gelehrt hat, den Kehrbesen zu führen und die Straßenfegerkarre zu lenken. Der ihm zeigte, wo er abends vor den Toren der Stadt den Unrat abliefern musste und seinen Lohn bekam. Auch Zeichen malte der Vaterbruder auf Papier, Zeichen, wie er sie immer in und an den Geschäften der langen Morgenabendstraße sah. Er erkannte Zusammenhänge zwischen den Strichen und Kreisen und den Dingen. »Bett« war leicht, auch »Tisch« oder »Mond«, das »o« war so rund wie der helle Lichtkörper oben am Himmel, und der Mund des Vaterbruders formte sich genauso rund wie zuvor der Mund des Vaters für »komm«. Und er lernte die Zeichen, die für ihn standen: I-g-n-a-t-z. I-g-n-a-t-z kritzelte er und deutete auf sich, nur die Bewegung der Lippen dazu gelang ihm nicht.

      Er wollte mehr erfahren. Er schleppte Blätter an, die über und über beschriftet waren. Doch der Vaterbruder bedauerte, und er, I-g-n-a-t-z mit dem Andermund, verstand: So viele Zeichen begriff auch der Vaterbruder nicht. Doch die Blätter behielt er für sich, verwahrte sie an einem geheimen Ort, und sah er in einem Laden neue, wartete er, bis keiner schaute, griff sich ein paar und schlenderte weiter, als sei nichts geschehen. Das weiche Papier fühlte sich gut an in seiner Hand.

      Der Schankwirt hat ihm zu trinken gebracht, und was die Suppe nicht schaffte, gelingt dem süffigen Getränk. Es benebelt ihn. Nicht sehr, nur so viel, dass er die verfluchte Leere nicht mehr spürt, seine Beschützerin nicht mehr vermisst, für eine Weile nicht mehr an den Vater denken muss. Der Mann am Nebentisch grüßt und hebt sein Glas. Er prostet zurück. Durchs Fenster sieht er, dass es zu schneien aufgehört hat. Er könnte jetzt zum Markt gehen und schauen, ob die Händlerinnen wegen des Geschehens am Vormittag den Verkauf auf den Nachmittag verlegt haben. Vielleicht ist das Mädchen da.

      Das Mädchen hat Augen so tief wie der tiefste Brunnen. Die glänzenden, nachtdunklen Haare trägt sie zu einem Knoten hochgebunden, der von einem zierlichen Häubchen bedeckt ist. In den Ohrläppchen stecken blinkende Steine in der Form winziger Blüten. Himmelfarbene Sonnenblümchen. Das Mädchen muss stark sein wie seine Beschützerin früher, sonst könnte sie nicht den großen Korb mit dem schweren Deckelkrug und den Früchten tragen, deren Schalen so hart sind, dass man sie mit einem Werkzeug oder, geschickt dazwischengeklemmt, mit den Fingern aufbrechen muss.

      Das Mädchen Blümchen ist von weit her. Er hat die Erdklumpen unter ihren Schuhsohlen gesehen und die Dreckspritzer auf den Strümpfen. In der Nacht, bevor sie ihm das erste Mal aufgefallen ist, hat es geregnet gehabt. Wahrscheinlich war der Weg, auf dem sie gekommen ist, schlammig, führte vielleicht durch sumpfige Wiesen.

      Was ihm an jenem Tag den Mut dazu gab, weiß er bis heute nicht. Seine Beine bewegten sich von allein. Die anderen Händlerinnen bauten bereits ihre Stände ab, Blümchen verabschiedete noch eine Kundin. Dann ging er hin und half ihr, das Gefäß mit dem sonnenduftenden Sirup zu verschließen und in ihrer Kiepe gut festzuzurren, damit es beim Gehen nicht kippte und die klebrige Flüssigkeit auslief. Er hob den Tragekorb hoch und hielt ihn ihr hin, damit sie ihn leichter schultern konnte, doch er wartete nicht ab, dass sie sich danach wieder umdrehte, fürchtete die Bewegung ihres Mundes, lief davon, als fliehe er, und beim Weglaufen biss sich diese Wut in seinen Bauch, diese maßlose Wut, von der er meinte, er hätte sie längst besiegt.

      Der Marktplatz liegt verwaist. Einzig ein kleines Mädchen schlittert vergnügt in der Spurrille eines Fuhrwerks, ein Vierbeiner pinkelt gegen eine Hauswand und hinterlässt ein strohfarbenes Bächle, ein Kaufmann streut Asche vor seinem Laden. Die Locken, die dem Mann unter seiner Kopfbedeckung bis fast auf die Schultern fallen, wippen im Takt. Wenn die Temperaturen weiter anziehen und es über Nacht gefriert, wird auch er morgen früh, statt zu kehren, die Hauptstraße mit Asche bestreuen, damit sich niemand den Hals bricht. Er schaut zum Himmel, noch ist es hell. Er könnte jetzt zum Gürtelmacher gehen und dort die Werkstatt sauber machen. Der Mann hat ihn vor ein paar Tagen darum gebeten.

      Da sieht er auf der Morgenabendstraße im streng geschnittenen farbigen Rock, mit glitzernden Litzen und einem langen Waffenmesser an der Seite, einen der Wächtermänner des Großen Herrn daherkommen. Von Weitem erkennt er ihn nicht, aber beim Näherkommen und dann, als der Buntrock an ihm vorbeigeht, weiß er, wer es ist.

      Der Mann beachtet ihn nicht, er scheint es eilig zu haben. Im Übrigen hat der Buntrock ihn noch nie beachtet. Warum sollte er auch? Wer ist er denn schon mit seinen Anderohren und seinem Andermund? Er trägt auch keinen schmucken Hut und keine blank geputzte Waffe, keine Schärpe um den Bauch und keine geknöpften Beinkleider über seinen ausgelatschten Tretern.

      Er schaut dem Buntrock nach, der in Richtung Abendtor geht.

      Wenn er ihn so beobachtet, den Gang, die aufrechte Haltung, kann er seine Beschützerin aus Kindertagen verstehen. Er ist ein schöner Mann. Frauen sehen gern schöne Männer, schauen ihnen heimlich hinterher. Schöne Männer scheinen etwas Anziehendes an sich zu haben. Er hat noch nie bemerkt, dass Frauen sich nach ihm umdrehen.

      Seit der schöne Buntrock bei den Nachbarn einquartiert war, strahlte das Gesicht seiner Beschützerin wie die Sonne an warmen Tagen. Er hat sich gefreut für sie. Doch dann ging der Schöne weg, und sie veränderte sich, hörte auf zu lachen, floh aus sich heraus. Ein verletztes Tier.

      Er erfasste das Geschehen erst an jenem Morgen vor zwei Monden, als eine Menschentraube vor ihrem Haus die Gasse unpassierbar machte. Als die Hausweiber, aufgescheucht wie Federvieh, herausgeschossen und wieder hineingerannt sind. Als die Frau gelaufen kam, die gerufen wird, wenn in der Umgebung ein Kind zur Welt kommt. Als die Mutter seiner Beschützerin sich die Haare raufte und nicht aufhören konnte, mit den Händen zu fuchteln. Bald danach erschienen Männer in gewichtiger Robe, verschwanden im Haus, und als sie nach langer Zeit wieder herauskamen, führten sie seine Beschützerin mit sich. Einer trug das in ein Tuch gewickelte Kind. Ein Ärmchen hing an der Seite herab, als ob es nicht zum Körper gehörte. In dem Moment, in dem die junge Frau von einem Grobian von Mensch wie ein Stück Vieh an ihm vorbeigetrieben wurde, blickte sie auf. Sah ihn an. Warum hast du mir nicht geholfen?, verstand er, tu doch was, tu doch endlich was!

      Der Buntrock ist nur wenige Schritte vor ihm.

      Er könnte ihm jetzt von hinten ein Messer zwischen die Rippen stoßen.

      Er hat kein

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