Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman
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Das war Tess’ Routine, ihre einzige, seit der Star eingestellt worden war. Sechs Tage die Woche ruderte sie morgens und lief abends. Dreimal die Woche ging sie zum Krafttraining in eine altmodische Boxschule in Ost-Baltimore. Am siebten Tag ruhte sie, weichte ihren langen Körper in einer heißen Wanne ein und träumte von einem Mann, der ihr gleichzeitig die Füße und den Nacken massieren konnte.
Auf dem College war Tess eine mittelmäßige Skullerin gewesen, die zu einem mittelmäßigen Team gekommen war, weil sie kräftig war und muskulöse Beine sowie die breiten Schultern einer Schwimmerin hatte. Der Übergang vom Skullen zum Rudern hatte ihren Stil nicht verbessert. Tess wusste, oder glaubte zu wissen, wie hässlich es aussah, wenn sie über das Wasser kroch. Wie ein Käfer in der Kloschüssel, nichts als Zuckungen und Krämpfe. Sogar jetzt, wo sie langsam hinausfuhr, runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Zunge, so sehr musste sie sich konzentrieren. Nein, nichts an Tess sah beim Rudern natürlich aus. Sie war einfach nicht gut. Sie wollte auch gar keine Rennen gewinnen. Und doch ließ sie an fast keinem Tag das Training aus. Ihre Freunde sagten immer, es gebe einfach kein einziges eingefahrenes Gleis, das Tess nicht liebe. Das verletzte sie nicht. Es stimmte nämlich. Und ihre Liebe zur Routine hatte ihr auch geholfen, die Monate ohne Arbeit zu überstehen.
Aber an diesem Morgen, während sie versuchte, ihre Riemen flach zu halten, in einer Luft, die zum Schneiden dick war, kam ihr das alles plötzlich fadenscheinig vor. Der erste Tag im September sollte kühl sein, dachte sie, oder zumindest kühler als heute. Sie sollte in diesem Sport inzwischen gut sein, oder zumindest besser, als sie war. Ganz abrupt holte sie die Riemen ein und ließ das Boot treiben. Sie suchte den Himmel nach Regen ab, damit sie eine Ausrede hatte, aufzuhören. Dicker Nebel hing über der Skyline, aber keine Wolken. Von diesem Blickpunkt aus wirkte Baltimore einfach nur schmutzig und mutlos.
»Willkommen in Charm City«, sagte sie zu einer Möwe, die nach toten Fischen tauchte. »Willkommen in Baltimore, Süße.«
Weder Tess noch ihre Heimatstadt hatten ein gutes Jahr. Sie hatte keine Arbeit und bekam keine Arbeitslosenunterstützung. Baltimore war dabei, eine noch nie da gewesene Mordrate zu erreichen und den bisher für unschlagbar gehaltenen Rekord von 1993 zu brechen, der seinerseits einen damals für unschlagbar gehaltenen Rekord gebrochen hatte. Jeden Tag gab es einen kleinen Todesfall, die Art von Mord, die höchstens vier Absätzchen ganz weit hinten im Beacon füllte. Doch kaum jemand schien das zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar darum zu kümmern – außer denen, die bei der Wette um die Mordziffer des Jahres mitspielten. Der Bürgermeister nannte Baltimore noch immer »Die Stadt, die liest«, aber ansonsten hatte man dieses Motto schon längst umgemodelt.
»Die Stadt, die schießt, Süße«, rief Tess der unbeeindruckten Möwe zu. Die Stadt, die verdrießt. Die Stadt, die niemand genießt. Die Stadt, die man vergisst. Nur konnte Tess das nicht, sie konnte ebenso wenig von hier weggehen, wie sie mit einem Anker um den Hals vom Grund der Chesapeake Bay hätte auftauchen können.
Während sich ihr Blick in der Ferne verlor, tauchte ein weiterer Ruderer aus dem Schatten unter der Hanover Street Bridge auf und bewegte sich so leicht und elegant auf sie zu, als wäre das Wasser eingefettetes Glas. Seine Technik war perfekt, sein Rücken breit, sein weißes T-Shirt bereits grau vor Schweiß. Sein Bild war so plötzlich aus dem Nichts hervorgeschossen wie in einem 3D-Film.
In Sekundenschnelle hatte er die Distanz zwischen ihnen verkürzt und hielt direkt auf Tess zu.
»Hinter Ihnen«, rief sie, in der Gewissheit, dass ein so sicherer Ruderer keine Schwierigkeiten haben würde, den Kurs zu ändern. Ihre Stimme trug in der Morgenstille gut, doch der Ruderer achtete nicht darauf.
»Hinter Ihnen!«, rief Tess noch einmal deutlicher, während das Boot direkt auf sie zuschoss. Ein Zusammenprall schien unvermeidlich. Aus diesem Blickwinkel hatte sie noch nie jemanden rudern sehen, hatte noch nie bemerkt, wie schnell so ein Boot sich bewegte, wenn man ihm im Weg war. Nervös begann sie mit ihren Riemen kleine nutzlose Bewegungen zu machen, um den Alden zu drehen und dem herannahenden Boot aus dem Weg zu gehen. Ihr einziger Gedanke war, den Schaden an dem fremden Boot möglichst gering zu halten, denn es sah zerbrechlich und folglich teuer aus.
Der Alden, dieses bewunderungswürdige Boot, das speziell für Anfänger entwickelt worden war, bewegte sich unter Tess so leicht und behänd wie eine große Kuh. Trotz aller Eile, mit der sie das Boot in hastigen, stümperhaften Bewegungen durch das raue Wasser zu bewegen versuchte, schien sie überhaupt nicht von der Stelle zu kommen. Verzweifelt rutschte Tess mit ihrem Sitz nach vorn und zog die Riemen so heftig durch, wie sie konnte, wobei sie die ganze Kraft ihrer Beine einsetzte. Ihr Boot schoss übers Wasser und dem herankommenden Boot aus dem Weg. Da presste der andere Ruderer die Riemen gegen den Körper und inszenierte einen perfekten Nothalt wenige Zentimeter vor der Stelle, an der sie sich eben noch befunden hatte.
Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie da war.
»Das kriegst du dafür«, schrie eine vertraute Stimme, »wenn du so lasch ruderst.«
»Vielen Dank, Rock«, schrie Tess zurück. »Vielen Dank, dass du mich zu Tode erschreckt hast. Ich dachte schon, du wärest so ein Kamikaze-Ruderer, der mich versenken will.«
»Nö. Nur dein Privattrainer, der dich dazu bringen will, dass du wirklich jeden Tag vollen Einsatz bringst. Wozu kommst du denn überhaupt hier raus, wenn du dich überhaupt nicht forderst?«
»Wozu komme ich überhaupt hier raus? Darüber hab ich gerade nachgedacht, bis ich dann wegen dir diese Überdosis Adrenalin ausschütten musste.«
Rock jedoch sah das Rudern als seine eigentliche Berufung an. An den Wochentagen beugte sich Rock, der dann Darryl Paxton hieß, von acht bis siebzehn Uhr in seiner Funktion als Forscher über eines der 20000 Mikroskope in der Johns Hopkins Medical School. Tess wusste nicht so genau, worüber er forschte, denn Rock gehörte zu den seltenen Menschen, die nie über ihre Arbeit sprachen. Rock arbeitete nur, um rudern zu können und so viel Geld wie möglich für seine einzige Leidenschaft beiseitezulegen. Er aß auch nur, um rudern zu können, schlief nur, um rudern zu können, hielt sich nur fit, um rudern zu können. Bis er sich in diesem Frühling verlobte, hatte Tess geargwöhnt, dass er überhaupt keine für das Rudern unwesentlichen Dinge tat. Es würde interessant sein, zu beobachten, wie seine Verlobte auf die Herbsttermine der wichtigsten Rennen reagierte, die Rock bis Thanksgiving zweimal täglich aufs Wasser rufen würden. Wenn die Verlobung diese Saison überlebte, dachte Tess, dann würde sie mit Freuden auf der Hochzeit im nächsten März tanzen. Vielleicht würde sie sogar mit der Braut tanzen. Schließlich sollte sie ja Brautführer sein.
Komisch, dabei hatte Tess sich zunächst von Rock ganz eingeschüchtert gefühlt. Er sah so aus, wie sich Tess einen Massenmörder vorstellte: stämmig und breit gebaut und so voller Muskeln, dass seine Haut darüber spannte. Hie und da machte sich denn auch ein Muskel selbstständig und zuckte an einer unerwarteten Stelle. Die Adern an seinen Armen waren dick und blau, als hätte er Kugelschreiber unter der Haut, und seine starken, gedrungenen Waden waren so überentwickelt, dass es aussah, als hätte er Baseball-Bälle unter die Knie implantiert bekommen. Ein angehender Arzt an der Johns Hopkins hatte einmal die Theorie aufgestellt, dass Rock aufgrund seiner Mitochondrien überhaupt keinen Schmerz empfinden könne. Tess aber wusste, dass er im Gegenteil alles nur zu tief empfand. Das sah man schon an seinem Gesicht – einem Kindergesicht, rein, arglos, mit runden braunen Augen wie eine Zeichentrickfigur.
»Du siehst ja wie Dondi aus!«, war sie vor fünf Jahren eines Morgens herausgeplatzt, als er nach einem harten Training am Dock anlegte, die blauschwarzen Haare vor Schweiß an den Kopf geklebt. Sie kannte ihn bis dahin nur vom Sehen, als einen der