Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman

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Der Geliebte der Verlobten - Laura  Lippman Tess Monaghan

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Sie dann vielleicht ein wenig Kleingeld?« Tess griff in ihre Hosentasche und reichte ihr eine verschrumpelte Dollarnote. Sie hatte wenig Mitgefühl für Bettler und gar keins für ihre Großmutter, die bei ihren nächsten Verwandten als alte Vettel galt. Aber für einen Dollar konnte sie sich vielleicht einen ruhigen Vormittag erkaufen. Die Frau versenkte den Geldschein in den üppigen Falten ihres Kleides und schaukelte sich glücklich vor und zurück, wobei sie leise sang. Tess seufzte und schaltete ihren Walkman an. Ella Fitzgerald, Das Johnny Mercer Songbook.

      So saßen sie und ihre neue Freundin vier Stunden lang nebeneinander auf der Bank, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Johnny Mercer wurde von Jerome Kern abgelöst. »All the things you are«, »You couldn’t be cuter« »I’ll be hard to handle«. Ein Lied, das auf Ava passte. Tess hatte ihr Buch ausgelesen und fing wieder von vorne an. Für Beschattungen offensichtlich ein zu kurzes Buch.

      Sie wollte das Buch gerade zum dritten Mal anfangen, als kurz nach zwölf Ava wiederauftauchte. Sie ging mit frischen Schritten nach Osten, die Aktenmappe in der Hand, jeder Zoll die wichtige Rechtsanwältin auf ihrem Weg zu einer wichtigen Verhandlung. Eine Rechtsanwältin, dachte Tess, die Selbstvertrauen besaß, weil sie heute Morgen das richtige Deodorant benutzt hatte. Ich boshaftes Ding, schalt sie sich selbst. Ich bin doch nur neidisch, weil ihr Kostüm mehr gekostet hat, als ich in einer Woche verdiene. Außerdem saß es auch noch perfekt, wie Tess bemerkte. Tess fand sich selbst schon gut angezogen, wenn ihre Hose nicht rutschte und ihre Bluse nicht aus dem Gürtel hing.

      Aber heute hatte sich Tess natürlich so gekleidet, dass sie unsichtbar war. Jeans, ein weißes, weites T-Shirt, Turnschuhe. Sie machte sich keine Sorgen, dass Ava ihr Gesicht wiedererkennen würde, aber ihren Zopf hatte sie trotzdem unter einer schwarzen Perücke versteckt, einer Schöpfung der Geschwister Gabor. Die Perücke gehörte Kitty, die sie an einem erinnerungswürdigen Halloween-Abend getragen hatte, als sie eine vierzigjährige Kleopatra an der Seite eines einundzwanzigjährigen Julius Cäsar spielte, ein Anachronismus, von dem Shakespeare ihrer Meinung nach begeistert gewesen wäre. Tess gefielen diese rabenschwarzen Haarflechten, aber sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich so unauffällig aussah, wie sie es beabsichtigte. Sie hatte das Gefühl, dass die miserablen schwarzen Strähnen sie eher wie eine Möchtegern-Rastafari aussehen ließen, oder wie Crow mit seinen grünen und schwarzen Dreadlocks.

      Sie hätte angenommen, dass Ava zunächst nach Osten gehen, dann aber in nördliche Richtung abbiegen würde, in die St. Paul Street zum Gerichtsgebäude. Doch Ava ging geradeaus weiter und so zielstrebig wie eine heimkehrende Brieftaube auf die Galerie zu. Die Galerie war ein vierstöckiges Einkaufszentrum, im obersten Stock lag das Renaissance Harborplace Hotel und in den übrigen Stockwerken waren genau die Läden, die man in solchen Einkaufszentren in sämtlichen Städten Amerikas findet. Tess hätte eigentlich gedacht, dass das ein wenig zu gewöhnlich für Ava wäre, doch Ava gurrte geradezu vor Vergnügen, als sie durch die Glastüren ging, und breitete die Arme aus, als wolle sie all die möglichen Einkäufe umarmen, die ihrer harrten.

      Tess, die unter ihrer Perücke höllisch schwitzte, schob und quetschte sich durch das überfüllte Einkaufszentrum und versuchte, den richtigen Abstand zwischen sich und Ava zu bewahren. Glücklicherweise hatte Ava nur Augen für die Schaufenster. Sie blieb stehen, um ihr perfektes Spiegelbild zu überprüfen, und ging dann wieder weiter, wobei sie hie und da auf die Uhr sah. Ihrem Einkaufsbummel schien ein Plan zugrunde zu liegen, eine Art Tagesordnung, die Tess jedoch nicht durchschaute.

      Amaryllis, ein kleiner Juwelierladen, lockte Ava nach drinnen. Tess sah von außen zu, wie Ava eine Angestellte bat, ihr ein seltsames, auffälliges Halsband zu zeigen, eine Silberkette voller Amulette und Medaillons. An den meisten Menschen hätte es grässlich ausgesehen, aber für Avas weißen Hals und ihre karminrote Bluse war es genau das Richtige. Ava reichte es mit einem hübschen bedauernden Kopfschütteln zurück. Es ist einfach nicht ganz so perfekt wie ich, schien sie zu sagen.

      Sie machte weiter mit ihrem Schaufensterbummel; viele Läden betrat sie nur, um die Ware mit Verachtung zu strafen. Immer wieder sah Tess sie etwas hochhalten – eine Tasche, ein Kleid, ein Tuch, einen Gürtel – und es dann wieder mit demselben bezaubernden Kopfschütteln zurücklegen. Nichts passte ihr. Je teurer der Gegenstand war, desto mehr schien es sie zu betrüben.

      Bei Victoria’s Secret kam Tess Ava so nahe, wie sie es nur wagen konnte, und versteckte sich hinter einem Regal mit Push-up-BHs. Ava ließ ihre Hand über einen Verkaufstisch mit Unterwäsche gleiten, zog sie dann aber zurück, als habe der Polyesterstoff ihre Haut beleidigt. Und doch streckte sie sie gleich wieder aus und strich womöglich noch leichter über einen Stapel von burgunderroten Höschen. Diesmal fielen zwei Paar davon in ihre offene Aktentasche.

      Tess blinzelte vor lauter Schreck mit den Augen. Die warnenden Worte ihrer Tante fielen ihr sofort wieder ein. Die Unterwäsche musste wohl zu Boden gefallen sein. Oder Ava benutzte ihre Aktentasche als Einkaufskorb und hatte vor, am Ende für alles zu bezahlen.

      Sie konnte keine Diebin sein.

      Ava ging zu einem Tisch voller Hemdchen und wiederholte denselben Trick. Berühren, zurückziehen, einstreichen – in die Aktentasche! Wenn Tess richtig mitgezählt hatte, besaß Ava jetzt zwei Paar Höschen in Burgunderrot und drei smaragdgrüne Unterhemdchen. Eine Verkäuferin näherte sich ihr, als sie die Spitze an einem Nachthemd befühlte, und Ava hob die rechte Hand in einer freundlichen, aber deutlichen Warnung. »Ich schaue mich nur um«, deutete sie mimisch an und verließ schnell den Laden. Niemand hielt sie auf.

      Ava, die Ladendiebin. Vielleicht war sie einfach nur mit den Nerven völlig runter, dachte Tess. Ava, die Kleptomanin. Das könnte ihr seltsames Benehmen Rock gegenüber erklären. Aber war der Ladendiebstahl das Problem selbst oder nur ein Symptom? Und wenn er das Problem war, wie erklärte man damit die Tatsache, dass sie nachts nicht zu Hause war, oder den abgesagten Urlaub? Gehörte sie vielleicht zu irgendeinem seltsamen Verbrecherring, oder war sie einfach nur eine gelangweilte Anwältin, die sich in ihrer Mittagsstunde ein paar Kicks verschaffen wollte?

      Rock wäre das egal. Er wäre mit diesem Bisschen Information schon zufrieden, würde sich geradezu darauf stürzen. Tess ging es anders. Instinktiv ahnte sie, dass das nur ein Teilchen aus einem ganzen Puzzle war, ein Schlüssel zu einer Tür, die sie noch nicht gefunden hatte. Eine einzige Tatsache war wie eine unreife Avocado, etwas, das man nicht drängen kann. Man wendete sie in Mehl und wartete ab.

      So in Gedanken versunken, bemerkte Tess gar nicht, dass Ava weitergegangen war. Sie sah sie erst wieder, als sie gerade ein Stockwerk weiter unten von der Rolltreppe trat. Tess versuchte ihr schnell zu folgen, aber die Rolltreppe war mit gedankenlosen Touristen vollgestopft, mit der Art von Leuten, die sich nicht rechts in die Reihe stellen, damit andere links vorbeigehen können, sondern davon ausgehen, dass jeder gerade Urlaub hat. Wenn sie jetzt keine Leute durch die Gegend werfen wollte, musste sie einfach abwarten, bis sie an der Reihe war, die drei Meter gerippten Gummi zu überqueren, die Ava bereits überschritten hatte.

      Als Tess endlich das Erdgeschoss erreichte, war Ava verschwunden. Tess glaubte noch, sie am Ende des Gebäudes zu erspähen, wo die Läden aufhörten und die Hotellobby begann. Aber nein, da war kein Aufblitzen von Karminrot oder Perlgrau, keine Aktenmappe, die von grünen Hemdchen und burgunderroten Höschen überfloss, keine dunklen Haare.

      Ava war verschwunden.

      Tess rannte nach draußen, in der Annahme, sie könne sie da doch noch aufspüren. Möglicherweise kehrte sie in ihr Büro zurück, um Todesanzeigen in die Akten der Asbestopfer einzuordnen oder wieder einmal einen unglücklichen Angehörigen abzuwimmeln. Oder sie war vielleicht bei dem kleinen Amphitheater auf der anderen Straßenseite stehen geblieben, wo in den warmen Monaten Jongleure und Feuerschlucker auftraten. Aber als sich Tess einen Weg durch den Halbkreis von glotzenden Touristen gebahnt hatte, gab es da gar keine Darbietung, sondern nur einen alten Mann, der auf dem heißen Gehsteig schlief.

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