Kursbuch 203. Группа авторов
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Das Individuum ist in diesem Sinne nicht unteilbar, sondern letztlich, wieder mit Marx gesprochen, ein »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«. Das Individuum steht nicht der Gesellschaft gegenüber, sondern wird durch seine Individualität von der Gesellschaft erzeugt – und zwar in differenzierter Vielfalt: Das Rechtssystem erzeugt ein zurechnungsfähiges Rechtssubjekt, Arbeitsmärkte erzeugen Karrierewege und damit individuelle Berufsbiografien, Produktmärkte erzeugen den individuell entscheidenden Konsumenten, die politische Öffentlichkeit verlangt politische Bekenntnisse und Wahlstimmen von jedem und jeder Einzelnen, der Staat macht aus Menschen Bürger, das Bildungssystem erzeugt Persönlichkeiten und einen Habitus der Langsicht im Hinblick auf spätere Tätigkeiten, die Medizin erzeugt eine Orientierung an der eigenen Körper-/Krankheitsgeschichte, die Massenmedien versorgen die Einzelnen mit Bildern und Chiffren, wie man sich als Individuum beschreiben und darstellen kann, und selbst die Religion verlangt in unseren Zeiten eine bewusste individuelle Entscheidung für Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit. Selbst die Erlösungsfähigkeit wird individualisiert.
Der Zusammenhang dieser unterschiedlichen Individualisierungsformen aber wird nicht durch kompakte Orte hergestellt. Zwar erzeugt die Gesellschaft erhebliche soziale Ungleichheiten, Milieus und sehr unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten, aber das ist eher das Ergebnis als die Voraussetzung der gesellschaftlichen Dynamik. Das moderne Versprechen, dass jeder und jede etwas werden kann, heißt eben auch, dass nicht jeder und jede auch etwas wird. Das ist das Bezugsproblem einer Gesellschaft, die darauf angewiesen ist, Individuen einerseits stark gesellschaftlich zu formieren, andererseits aber auch ausreichend unterbestimmt zu lassen.
Will man es systemtheoretisch formulieren: Dem Gesellschaftssystem und den Organisationssystemen stehen Mechanismen wie Differenzierung, Gleichzeitigkeit, Unterbrechungen, Selbstzerstörung von Strukturen, evolutionäre Brüche und radikale Beschleunigung zur Verfügung. Psychischen Systemen, den Körpern von Menschen, aber auch auf Langfristigkeit gebauten Versorgungsbeziehungen (wie Elternschaft, Pflege) stehen diese Mechanismen nicht zur Verfügung. In der Forschung der 1980er-Jahre hat man für die industriegesellschaftliche Moderne von der »Institutionalisierung des Lebenslaufs«6 oder von einem institutionengestützten »life course«7 gesprochen. Gemeint war die versicherungstechnische, institutionelle, sozialpolitische, gesetzliche, arbeitsorganisatorische und auch mentale Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Welt.
Die großen politischen Spieler der westlichen Länder gruppierten sich fast nur um diese Frage:
•Für Konservative ging es um die Rettung sogenannter gewachsener Lebensformen und die Verteidigung einer überkommenen Schichtung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Anerkennung der modernen Komplexität, die sie vor allem durch Rekurs auf die imagined community der Nation als Einheit simulieren, die die Gesellschaft nicht ist. Die semantische Übersteigerung der Nation reagiert auf die Unmöglichkeit, mit ihr das zu kompensieren, was der Konservatismus für die eigene Tradition hält. Deshalb ist der Konservatismus eine eminent moderne politische Form, weil er eine semantische Problemlösung für Modernisierungsfolgen anbietet. Die Staatsnähe des Konservatismus ist eine Nähe zum Staat als Garant einer gewachsenen Ordnung, wozu meistens auch die Wirtschaftsordnung gehört, dazu gehört auch die Etablierung sozialpolitischer Maßnahmen – gerade in Deutschland deutlich an den unterschiedlichen Quellen in der katholischen und auch evangelischen Soziallehre einerseits, in der sozialistischen andererseits. Konservative Formen der Herstellung von Kontinuität sind Formen, die an Strukturen ansetzen, die in der Gesellschaft bereits als vorhanden gelten: regionale Traditionen, Berufsstände und familiale Kontinuitäten.
•Für die Sozialdemokratie oder sozialistische politische Akteure ging es noch expliziter um die Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Wirtschaftswelt. Es ging darum, trotz Volatilität von Märkten eine Lebens- und Versorgungsperspektive für die arbeitenden Menschen zu ermöglichen. Es ging um die Erzeugung von Kontinuität, weswegen solche Parteien in der Vergangenheit tatsächlich mehr als nur politische Organisationen waren, sondern auch Bildungs- und Kulturorganisationen als Identitätsangebot für diejenigen, die frei von traditionellen Versorgungsstrukturen waren. Klassische sozialdemokratische Politik zeichnete sich durch eine größere Bereitschaft zur Umverteilung aus.
•Der politische Liberalismus schließlich stand einerseits für Abwehrrechte gegen einen autoritären Staat, andererseits für die Idee, der Volatilität und Eigendynamik der Gesellschaft und den ordnungsbildenden Kräften des Marktes zu vertrauen. Der Liberalismus war auf der einen Seite eine starke Freiheitsbewegung, die von der Kritik der Bevormundung durch den Staat, die Kirche, durch Traditionen und tradierte Lebensformen geprägt ist. Darin ist der klassische Liberalismus vor allem an den Bürgerrechten orientiert. Andererseits neigt er bisweilen zu einer merkwürdigen Anfälligkeit für rechte Ideologien, weil eine der Konsequenzen eines staatsfernen Liberalismus dem Recht des Stärkeren und der Verdrängung des Schwachen nahesteht.
Genau gesehen gruppieren sich die zentralen politischen Konflikte noch immer um diese Formen, die Zugehörigkeiten, Zeitperspektiven und Kontinuitäten auf unterschiedliche Weise erzeugen wollen. Diese Differenzierung von politischen Bewegungen folgt letztlich einem einzigen Bezugsproblem: der Positionierung und Kontinuität von Leben in einer volatilen, ausdifferenzierten Gesellschaft. Die Lösungen sind unterschiedlich, aber das Bezugsproblem ist dasselbe.
Die Krise der klassischen Parteien, wie sie hier als konservative, sozialdemokratische und liberale Formen idealtypisch aufgelistet sind, liegt dann womöglich viel weniger an der Krise der konservativen, sozialdemokratischen oder liberalen Variante, sondern an einer Krise der politischen Konflikte. Die klassische westliche nationalstaatliche Gesellschaft, die zumindest der weltgesellschaftliche »Westen« seit dem 19. Jahrhundert für das gesellschaftliche Grundmodell schlechthin gehalten hat, hat diese Bedingungen des Überlebens als ein Problem der vor allem staatlichen Herstellung von Kontinuität gehalten. Dass zur staatlichen Aufgabe des Nationalstaates die Organisation einer dauerhaften Ordnung gehört, einer Ordnung, die erwartbare Abläufe sichert und Massenloyalität erzeugt, weist auf dieses Bezugsproblem hin. Die katastrophischen Teile der gesellschaftlichen Moderne haben stets etwas mit dem Problem zu tun gehabt, diesen Ort der Ordnung in Abgrenzung zu anderen zu etablieren. Dazu gehört die nationalistische Erfindung von communities8 als Ersatzorte für eine multizentrische Welt, die Erfindung des Fremden und die fast universale Etablierung des Antisemitismus und des Rassismus/Kolonialismus. Dazu gehören die totalitären Versuche der Gesamtsteuerung der Gesellschaft in ihrer faschistischen, nationalsozialistischen, aber auch in ihrer kommunistischen Variante. Diese Krisenformen der Moderne haben letztlich alle dort angesetzt, wo es um die Überlebensbedingungen des eigenen Personals ging – allesamt gepaart mit der historischen Ironie, dass diese Überlebensregime besonders viele Todesopfer durch Kriege, Vernichtung und Hungersnöte erzeugt haben. Sie sind allesamt keine Dementierung der Moderne, sondern laborieren direkt an ihrem Bezugsproblem, der Herstellung von Kontinuität in einer volatilen Welt.
Das Ende des »Goldenen Zeitalters«
Eric Hobsbawm hat die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Nordamerika als eine Art »Goldenes Zeitalter« bezeichnet. Vielleicht ist es damals noch am ehesten gelungen,