Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard

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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard Reclam Taschenbuch

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hatten, »widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten« (S. 173); die »Totemreligion« war – wie dann auch das Gewissen – »aus dem Schuldbewusstsein der Söhne hervorgegangen als Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen Gehorsam zu versöhnen« (S. 175). Der erfolgreiche Aufstand gegen den Vater wurde nachträglich ersetzt durch den Respekt vor dem, was an des Vaters Stelle trat. In der Bundesrepublik – meine ich – vollzog sich seit Ende der 50er-Jahre – und als spektakuläre Reprise dann in der so genannten »Studentenbewegung« Ende der 60er-Jahre – just das Gegenteil: die in der Nationalsozialistenzeit zwischen 1933 und 1945 weitgehend ausgebliebene Revolte gegen den Diktator (den Vater der »vaterlosen Gesellschaft«12) wurde stellvertretend nachgeholt durch den Aufstand gegen das, was nach 1945 an die Stelle der Diktatur getreten war: darum wurden nun die »Totems« gerade geschlachtet und aufgegessen und die »Tabus« gerade gebrochen: nach der materiellen Fresswelle kam so die ideologische. Es entstand ein frei flottierender quasimoralischer Revoltierbedarf auf der Suche nach Gelegenheiten, sich zu entladen; er richtete sich – zufolge der Logik der Nachträglichkeit – okkasionell und unwählerisch gegen das, was jetzt da war: gegen Verhältnisse der Bundesrepublik, also demokratische, liberale, bewahrenswerte Verhältnisse. Es ist – ich formuliere scharf (»gegen nichts ist man unnachsichtiger als gegen gerade abgelegte Irrtümer«: Goethe) – als Reflexion zelebrierte Dummheit, diese Verhältnisse zugunsten eines revolutionären Prinzips aufs Spiel zu setzen; denn es gibt keine Nichtverschlechterungsgarantie, auch und gerade nicht durch jene revolutionäre Geschichtsphilosophie, die sie durch den Fortschrittsgedanken zu geben verspricht:13 wir haben – und zwar in unserer Zeit und Gegend alle – sehr viel mehr zu verlieren als allein unsere Ketten.14 Das alles ignoriert der nachträgliche Protest; dadurch wird eine Demokratie zum nachträglichen Empörungsziel eines gegen die totalitäre Diktatur versäumten Aufstands: diese Absurdität steckt in der merkwürdigen Nachträglichkeit dieses Protestverhaltens. Es liegt nahe, zu seiner Beschreibung einen Gegenbegriff zu Freuds Begriff des »nachträglichen Gehorsams« zu bilden: darum nenne ich das, was hier – zwischen den späten 50er- und den frühen 70er-Jahren – vorging, den nachträglichen Ungehorsam.

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