Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
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Zu dieser neuen Ernüchterung gehörte der Katzenjammer in Bezug auf den Illusionsgehalt des nachträglichen Ungehorsams: mich jedenfalls wurmte es, dass mich gerade die Skepsis zu einer neuen Vertrauensseligkeit geführt hatte. Es scheint – unbehaglicherweise – so etwas zu geben wie ein Gesetz der Erhaltung der Naivität: Die menschliche Misstrauenskapazität ist begrenzt, und je mehr man sie an einer der Denkfronten konzentriert, desto leichter kommt die Naivität zum Sieg an den anderen. Die Gegenwartsszene ist bewegt von Gegenbesetzungen gegen diese unbehagliche Erfahrung; darüber – zum Beispiel – wurden unsere Dichter zu kochenden Seelen: sie kochen fast alle, entweder vor Wut oder am Herd (oder beides), und allemal gibt das Bücher. Ich selbst kann nicht kochen, es sei denn auch nur mit Wasser; aber sogar das – tristesse oblige! – gab ein Buch: die Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973), die hier eine Zwischenbilanz versuchten. Die Philosophie – das gilt für die des nachträglichen Ungehorsams wie für die Zweifelsorgien der bloßen Skepsis – ist kein Amulett, das gegen Irrwege schützt; das nahm ich ihr übel, und aus dieser Enttäuschung heraus entstand der hier secundo loco abgedruckte – 1973 zum 60. Geburtstag von Hermann Krings geschriebene – Aufsatz »Inkompetenzkompensationskompetenz?«, der natürlich die Skepsis gegenüber der Philosophie übertrieb: aber gerade das ließ ihn mitrepräsentativ sein für jene spezifisch deutsche »Selbstunsicherheit der Philosophie«21 und Verzweiflung an ihr, die – historisch bedingt – eine umgekippte Überhoffnung ist. Denn die »verspätete Nation« – das hat Plessner dargelegt – kompensiert ihr verspätungsbedingtes Defizit an politischen Liberalwirklichkeiten zunächst durch Übererwartung an die Geisteskultur, speziell an die Philosophie. Doch diese Übererwartung kann die Philosophie (wie ihr Weg durchs 19. Jahrhundert zeigt, auf dem gerade darum die Kunst der Enttäuschung entstand: die Ideologiekritik) nur enttäuschen: Das erzwang – anders als etwa in den angelsächsischen Demokratien, deren Ansprüche an die Philosophie von vornherein bescheidener sein konnten – gerade in Deutschland die Neigung, die absolute Hoffnung auf die Philosophie schließlich durch die absolute Verzweiflung an der Philosophie zu ersetzen. Das tat auch mein Aufsatz über die »Inkompetenzkompensationskompetenz« der Philosophie. Im Grunde aber wollte er für die Philosophie nur das Ende der Unbescheidenheit22: in diesem Sinne wiederholte und bekräftigte er die Wende zur Skepsis.
Gerade diese Wende zur Skepsis jedoch – wiederholt und bekräftigt – musste skeptischer werden in Bezug auf sich selber: insbesondere angesichts des unbehaglichen Verdachts, sie wirke als indirekte Ermächtigung von Weltverbesserungsillusionen. Darum wurde es fällig, ihr Illusionspotential zu reduzieren: das Quantum quasigöttlicher Souveränität, das der Dauerzweifel zu enthalten scheint, an die Kette der Menschlichkeit zu legen und die Skepsis (meinethalben durch »existenzialistische« Akzentuierung) umzudefinieren zu einer Philosophie der Endlichkeit.
Darum wurden jetzt gleichwichtig mit dem Zweifel jene Züge, die die Skepsis – historisch belegbar – stets auch gehabt hat: die Ernstnahme des »Einzelnen« und die Bereitschaft, gemäß den »Sitten der Väter« zu leben, d. h. – wo es keine zwingenden Gründe fürs Abweichen gibt – nach Üblichkeiten zu handeln. Das ist für Menschen unausweichlich, weil sie Einzelne sind. Die Skepsis wünscht sich zwar den vermeidlichen Einzelnen: die gebildete Individualität. Aber sie rechnet mit dem unvermeidlichen Einzelnen: das ist jeder Mensch, weil er »unvertretbar« sterben muss und »zum Tode« ist.23 Dadurch ist das Leben des Menschen stets zu kurz, um sich von dem, was er schon ist, in beliebigem Umfang durch Ändern zu lösen: er hat schlichtweg keine Zeit dazu. Darum muss er stets überwiegend das bleiben, was er geschichtlich schon war: er muss »anknüpfen«. Zukunft braucht Herkunft: »die Wahl, die ich bin«24, wird »getragen« durch die Nichtwahl, die ich bin; und diese ist für uns stets so sehr das meiste, dass es – wegen unserer Lebenskürze – auch unsere Begründungskapazität übersteigt: Darum muss man, wenn man – unter den Zeitnotbedingungen unserer vita brevis – überhaupt begründen will, nicht die Nichtwahl begründen, sondern die Wahl (die Veränderung): die Beweislast hat der Veränderer. Indem sie diese Regel25 übernimmt, die aus der menschlichen Sterblichkeit folgt, tendiert die Skepsis zum Konservativen. »Konservativ« ist dabei ein ganz und gar unemphatischer Begriff, den man sich am besten von Chirurgen erläutern lässt, wenn diese überlegen, ob »konservativ« behandelt werden könne, oder ob die Niere, der Zahn, der Arm oder Darm herausmüsse: lege artis schneidet man nur, wenn man muss (wenn zwingende Gründe vorliegen), sonst nicht, und nie alles; es gibt keine Operation ohne konservative Behandlung: denn man kann aus einem Menschen nicht den ganzen Menschen herausschneiden. Das – unabsichtlich oder nicht – übersehen die, die den Begriff des Konservativen perhorreszieren. Analog lässt sich nicht alles ändern und darum nicht jegliches Nichtändern unter Anklage stellen: Deswegen bewirken die, die das – von den Geschichtsphilosophen bis zu den Diskursphilosophen – im Sinne einer »Übertribunalisierung der Wirklichkeit« tun, etwas anderes, als sie wollen. Das habe ich (mit Blick auf die Anfangskonstellation dieses Zusammenhangs) in dem 1978 geschriebenen Aufsatz »Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts« darlegen wollen, der hier tertio loco abgedruckt ist: Die Übertribunalisierer etablieren nicht die absolute Rationalität, sondern den »Ausbruch in die Unbelangbarkeit«, der für Freiheiten eintritt, die wir – vor aller prinzipiellen Erlaubnis – schon sind; dazu gehören Üblichkeiten. Weil wir zu schnell sterben für totale Änderungen und totale Begründungen, brauchen wir Üblichkeiten: auch jene Üblichkeit, die die Philosophie ist. Die Skeptiker rechnen also mit der sterblichkeitsbedingten Unvermeidlichkeit von Traditionen; und was dort – üblicherweise und mit dem Status von Üblichkeiten26 – gewusst wird, wissen auch sie. Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts Prinzipielles: die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der Abschied vom Prinzipiellen.
Demgegenüber will die prinzipielle Philosophie gerade prinzipiell und Prinzipielles wissen: darum fragt sie nach den Prinzipien und nach dem prinzipiellsten Prinzip. Dieses absolute Prinzip aber – das (wie immer es gedacht wird) stets sozusagen das Gewissen ist, das die Wirklichkeit haben soll – verwandelt die faktische Wirklichkeit insgesamt in das Unselbstverständliche, Kontingente, Ungerechtfertigte, das aus diesem unprinzipiellen oder gar konterprinzipiellen Status allererst durch prinzipielle Rechtfertigung (durch prinzipielle Begründung oder durch prinzipielle Veränderung) erlöst werden muss. Als derartige ›Verwandlung‹ der Wirklichkeit ins Rechtfertigungsbedürftige – als tendenzielle Tribunalisierung der Wirklichkeit – ist die prinzipielle Philosophie der fundamentale Spezialfall einer Veränderung. Wenn aber – sterblichkeitsbedingt – gilt: die Beweislast hat der Veränderer, dann (wenn also das Faktische das Apriori des Prinzipiellen ist, und zwar gerade durch seine Vergänglichkeit) muss die prinzipielle Philosophie zuerst nicht das Faktische, sondern zuerst sich selber rechtfertigen.27 Doch beide Rechtfertigungen der prinzipiellen Philosophie – die Rechtfertigung des Prinzipiellen vorm Faktischen und die Rechtfertigung des Faktischen vorm Prinzipiellen – kommen entweder zu leer oder zu spät: nämlich, als unendliche Antwort an ein endliches Wesen, stets erst nach dessen Tod. Falls der transzendentale Hase als Überbringer der prinzipiellen Botschaft – unwahrscheinlicherweise – wirklich einmal gerannt käme (und dabei nicht von nichts, sondern wirklich von etwas wüsste), läge der endliche Swinegel immer schon da: tot. Das Prinzipielle ist lang, das Leben kurz; wir können mit dem Leben nicht warten auf die prinzipielle Erlaubnis, es nunmehr anfangen und leben zu dürfen; denn unser Tod ist schneller als das Prinzipielle: das eben erzwingt den Abschied vom Prinzipiellen. Darum muss der endliche Mensch – einstweilen, in provisorischer Moral: aber jedenfalls bis zu seinem Tod – ohne prinzipielle Rechtfertigung leben (so dass das Gewissen jeweils mehr Einsamkeit ist als Universalität; Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit): er muss kontingent und aus Kontingenzen heraus existieren, die aber für ihn – den Anknüpfenmüsser, der nicht vor ihnen steht wie Buridans Esel vor den Heuhaufen, sondern der in ihnen steckt und stets nur wenig herauskann – keine beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeiten sind, sondern (als die Nichtwahl, die er ist) unverfügbare und kaum-entrinnbare Schicksale. Deswegen – das macht der 1976 geschriebene und hier quarto loco abgedruckte Aufsatz »Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren« geltend – wurde zwar das Schicksal theologisch-metaphysisch durch