Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
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All diese Überlegungen verabschieden die prinzipielle Philosophie; aber sie verabschieden nicht die unprinzipielle Philosophie: die Skepsis. Sie verabschieden für die Menschen die prinzipielle Freiheit; aber sie verabschieden nicht die wirkliche Freiheit, die im Plural: die Freiheiten. Zu ihnen kommt es durch die Buntheit des Vorgegebenen: dadurch, dass die Vielfalt – die Rivalität, der gleichgewichtige Widerstreit, die Balance – seiner Mächte deren Zugriff auf den Einzelnen neutralisiert oder limitiert. Freiheiten entstehen durch Gewaltenteilung. Der Sinn für diese Freiheiten ist nicht die prinzipielle Philosophie, sondern die Skepsis. Das bestimmt zugleich die Rolle ihres Zweifels: als Teilung auch noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind, ist der skeptische Zweifel der Sinn für Gewaltenteilung. Er ist nicht die absolute Ratlosigkeit, sondern der Vielfaltsinn für die »isosthenes diaphonia«28 – die Balance – nicht nur widerstreitender Dogmen, sondern auch widerstreitender Wirklichkeiten, die eben dadurch – divide et liberaliter vive! – dem Einzelnen Freiheiten lässt und jene Entlastung vom Absoluten gewährt, die vor allem auch – wie Hans Blumenberg gezeigt hat29 – als »mythische Gewaltenteilung« wirkt. In meinem Anfang 1978 geschriebenen und hier quinto loco abgedruckten Aufsatz »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie« habe ich das (durchaus in Spuren Blumenbergs gehend30) geltend gemacht: Freiheit ist, nicht »monomythisch« nur eine einzige Geschichte haben dürfen, sondern »polymythisch« deren viele durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind. Dabei muss man – was diese Buntheit und Vielfalt betrifft – notfalls nachhelfen: und das – zumindest auch das – heißt dann Hermeneutik. In dem 1979 geschriebenen und hier sexto et ultimo loco abgedruckten Beitrag »Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist« wollte ich – als späte, längst überfällige Bekräftigung meiner Zugehörigkeit zum hermeneutischen Lager – justament das unterstreichen: Hermeneutik ist die für Menschen lebensnotwendige Kunst, sich verstehend in Kontingenzen zurechtzufinden, die man festhalten und distanzieren muss, weil Wesen mit befristeter Lebenszeit sie nur begrenzt loswerden können; und der modernste Teil dieser Lebenskunst besteht – »lesen und lesen lassen!« – darin, den »absoluten Text«, der in den hermeneutischen Bürgerkriegen (den Konfessionskriegen) tödlicher Streitfall wurde, zum »relativen Text« – zum neutralen, literarischen, ästhetischen – unter anderen relativen Texten zu zähmen durch Pluralisierung auch noch der Lesarten, der Rezeptionsversionen: als Teilung auch noch jener Gewalten, die die Texte und Auslegungen sind, so dass »der Kern der Hermeneutik die Skepsis und die aktuelle Form der Skepsis die Hermeneutik« ist. Wir müssen unsere Kontingenz ertragen: Gerade die Skepsis – und auch das in dieser Einleitung Ausgeführte – ist keine absolute Mitteilung, weil jede Philosophie in ein Leben verwickelt bleibt, das stets zu schwierig und zu kurz ist, um absolute Klarheit über sich selber zu erreichen. »Das Leben« – sagt ein Sprichwort – »ist schwer, aber es übt«: vor allem trainiert es – more sceptico – Zufriedenheiten damit, dass es endlich ist.
Endnoten
Aristoteles, Metaphysik A 2 982 b 7–9.
H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957; hier zit. nach 41960.
Vgl. M. Sperber, Die vergebliche Warnung, Wien 1973, S. 165–167.
Vgl. H. Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaats, Göttingen 1973, bes. S. 162–164 (Vorgeschichte und Entwicklung der Adolf-Hitler-Schulen 1936–41), S. 254–256, 374–376.
Vgl. O. Marquard, »Kunst als Kompensation ihres Endes«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung, Paderborn 1981 (Kolloquium: Kunst und Philosophie, Bd. 1), S. 159–168.
R. Spaemann, »Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte«, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 1 (1959) S. 313; vgl. H. Lübbe [u. a.] (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965.
Zusammengefasst in: J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969; J. R., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974.
Vgl. M. Müller, Symbolos, München 1967, S. 49.
H. Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry Into Freud, Boston 1955; dt.: Eros und Kultur, Frankfurt a. M. 1957; Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1965.
O. Marquard, Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige philosophische Motive eines neueren Psychologismus in der Philosophie, Habil.-Schr., Münster 1963.
S. Freud, Totem und Tabu (1912); hier zit. nach: S. F., Gesammelte Werke in Einzelbänden, hrsg. von A. Freud [u. a.], Bd. 9, Frankfurt a. M. 41968.
Vgl. A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1968.
Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959.
Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik (1955), Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 245–247.
Vgl. Spinoza, Tractatus theologico-politicus (1670); dt.: Theologisch-politischer Traktat, hrsg. von G. Gawlick, Hamburg 1976, S. 301–303; vgl. R. Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, S. 87.