Die Fieberkurve. Friedrich Glauser

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Die Fieberkurve - Friedrich  Glauser

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fiel durchs Küchenfenster und um die Tonsur am Hinterkopf glitzerten die kurzen Haare wie Eis…

      »Danke«, sagte Studer und gab die Lupe zurück. Der Pater ließ sie in seiner grundlosen Kuttentasche verschwinden, zog die Tabaksdose hervor, schnupfte ausgiebig und sagte dann:

      »Damals, in Paris, als mir die Ehre zuteil wurde, Ihre Bekanntschaft zu machen, mußte ich so plötzlich aufbrechen, daß es mir versagt geblieben ist, Ihnen andere wichtige Details zu erzählen… « Stocken… »… über meinen Bruder, meinen zu Fez verstorbenen Bruder.«

      »Wichtiges?« fragte Studer und hielt den angebrannten Strohhalm unter die Brissago.

      »Wie man's nimmt.« Der Pater schwieg, spielte mit seiner Scheschia, schien plötzlich einen Entschluß gefaßt zu haben, denn er stand auf, die vertätschte Kappe ließ er auf dem Stuhl liegen und sagte:

      »Ich werde Ihnen einen Kaffee brauen… «

      »Mira… «, murmelte Studer. Er saß auf einem weißgescheuerten Küchenhockerli neben der Tür und hatte die Augen bis auf einen schmalen Spalt geschlossen. Nur die Verwunderung verbergen, dachte er, und besonders die Neugierde! Der Mann dort hatte es darauf abgesehen, ihn zu verwirren. Denn: Tatsache war, daß in dieser Küche vor nicht langer Zeit eine alte Frau ums Leben gekommen war. Aber der Pater schien nicht einen Augenblick an diese Tatsache zu denken, er nahm eine Pfanne, füllte sie am Wasserhahn, stellte sie auf einen Brenner. Dann scheuchte er den Wachtmeister von seinem Hockerli auf, bestieg den Schemel, um den Haupthahn ganz aufzudrehen, nun stand er senkrecht, kletterte herab und sagte zerstreut: »Wo mag wohl der Kaffee sein?«

      Und Studer sah das Holzgestell über dem Gasréchaud in der Küche am Spalenberg und die Blechdosen mit der abgestoßenen Emailglasur: »Kaffee«, »Salz«, »Mehl«. Hier gab es nichts dergleichen. Im Küchenschaft ein roter Papiersack mit Kaffeepulver.

      Ein leiser Knall – der Pater hatte die Flamme unter der Pfanne angezündet. Nun ging er mit weitausholenden Schritten in der Küche auf und ab, die Falten an seiner Kutte zersplitterten, formten sich wieder, und bisweilen, sekundenlang nur, traf den weißen Stoff ein Sonnenstrahl: dann leuchtete die Stelle wie ein frischgeprägter Silberling…

      »Er hat es prophezeit, mein Hellseherkorporal«, sagte Pater Matthias. »Er hat es gewußt… Zuerst die in Basel, dann die in Bern. Und wir beide haben die beiden alten Frauen nicht mehr retten können. Ich nicht, weil ich jedesmal zu spät gekommen bin. Sie nicht, Inspektor, weil Sie ungläubig waren.«

      Schweigen. Die Gasflamme schlug zurück, es pfiff sonderbar dumpf und höhnisch; Pater Matthias behob die Störung.

      »Ich hatte den beiden Frauen geschrieben, sie möchten sich in acht nehmen, es drohe ihnen Gefahr. Ich habe Josepha in Basel besucht, gleich nach meiner Ankunft, das war vorgestern – vorgestern morgen. Am Abend wollte ich noch einmal zu ihr, aber es war spät geworden. Um elf Uhr läutete ich an ihrer Wohnung. Alles war dunkel, niemand öffnete mir.«

      »Roch es nicht nach Gas?« fragte Studer und auch er sprach Schriftdeutsch.

      »Nein.« Pater Matthias beschäftigte sich mit der Pfanne auf dem Herd. Er hatte dem Wachtmeister den Rücken zugekehrt. Das Wasser kochte. Pater Matthias schüttete das Kaffeepulver darein, ließ die Mischung aufkochen, drehte das Gas ab und schüttete mit einer Kelle ein wenig kaltes Wasser in die Brühe. Dann nahm er Tassen aus dem Schaft, murmelte: »Wo hat die alte Frau ihren Schnaps verwahrt? Wo? – Im untern Küchenschrank! – Wollen Sie wetten, Inspektor, daß er im untern Küchenschrank steht?… Sehen Sie!«

      Er füllte die Tassen, tat geschäftig mit: »Bleiben Sie nur sitzen! Lassen Sie sich nicht stören!« Und brachte den Kaffee, den er tapfer mit Kirsch verdünnt hatte, dem Wachtmeister. Es war gespenstisch, fand Studer, das Kaffeetrinken um zehn Uhr morgens in der leeren Wohnung. Es kam ihm vor, als hocke die alte Frau, deren Gesichtszüge ihm unbekannt waren, in dem ledernen Klubsessel und sage: »Servieret-ech ungscheniert, Wachtmeischter, aber denn suechet myn Mörder!«

      Und es war wie ein Weiterspinnen dieser Vision, als Studer fragte:

      »Wie sah sie eigentlich aus, die Sophie Hornuss?«

      Pater Matthias, der wieder seine Wanderung durch die Küche aufgenommen hatte, blieb stehen. Seine Hand fuhr in die unergründliche Tasche seiner Kutte und brachte ein kleines Ding aus rotem Leder zum Vorschein, das wie ein Taschenspiegel aussah. Aber statt des Spiegels sah man beim Aufklappen zwei Photographien.

      Studer betrachtete die Bilder. Das eine stellte die Josepha dar: denn nicht zu verkennen war die Warze neben dem linken Nasenflügel. Nur war das Bild aufgenommen worden, als die Frau noch jung war. Viel Güte lag um den Mund, um die Augen…

      Das andere Bild – Studer wußte gar nicht, daß er sich räusperte, daß er auf die Photographie starrte und starrte…

      Die Augen vor allem: verschlagene, stechende Augen. Ein schmaler Mund – nur ein Strich waren die Lippen in dem jugendlichen Gesicht. Jugendlich? Warum nicht gar! Gewiß, die Photographie stellte eine Frau dar, Mitte der Zwanzigerjahre, aber es war eines jener Gesichter, die nie altern – oder nie jung sind. Beides war richtig. Und noch etwas ließ sich aus dem Bild begreifen: daß der Schweizer Geologe Cleman Alois Victor die Scheidung verlangt hatte. Mit solch einer Frau war nicht gut zusammenspannen!… – Eine hochgeschlossene Bluse, ein Stehkragen mit Stäbli, der das spitze Kinn trug… Und Studer konnte es nicht verhindern, daß ihm ein Frösteln über den Rücken lief…

      Die Augen! Sie waren geladen mit Hohn, mit höhnischem Wissen. Sie schrieen es dem Beschauer entgegen: »Ich weiß, ich weiß viel! Aber ich sage nichts!«

      Was wußte die Frau?

      »Wann hat sich Ihr Bruder scheiden lassen?« fragte Studer und seine Stimme war ein wenig heiser.

      »1908. Und im nächsten Jahr heiratete er wieder. 1910 wurde Marie geboren… «

      »Und 1917 ist Ihr Bruder gestorben?«

      »Ja.«

      Pause.

      Pater Matthias blieb stehen, blickte zu Boden – und dann begann er seine Wanderung aufs neue.

      »Es ist da eine Merkwürdigkeit, die ich vergessen habe, ihnen mitzuteilen. Mein Hellseherkorporal Collani hat sich 1920 in Oran anwerben lassen – schon das ist sonderbar, daß er auf afrikanischem Boden engagiert hat – und während des großen Krieges soll er sich, Angaben zufolge, die bei seinen Personalakten lagen, als Krankenpfleger in Marokko betätigt haben – in Fez. In Fez ist mein Bruder gestorben, das wissen Sie wohl, Inspektor. Ich war damals auch im Land, ich zog in der Gegend von Rabat herum und wußte nichts davon, daß Victor im Sterben lag… «

      Er gibt also zu, im Lande gewesen zu sein, dachte Studer. Auch er trägt einen Bart. Gekräuselt kann man ihn zwar nicht nennen, es ist ein Schneiderbart. Aber eine Ähnlichkeit mit der Photographie über dem Bette der Sophie ist unverkennbar – wie komm' ich nur auf so verrückte Gedanken? Der Geologe und der Pater ein und dieselbe Person? – Er starrte wieder auf die beiden Frauenbilder, die auf seinem Knie lagen.

      »Nicht einmal zum Leichenbegängnis meines Bruders habe ich kommen können… Als ich nach einem Monat Fez erreichte, war Victor schon unter der Erde. Nicht einmal sein Grab habe ich besuchen können. Man hatte ihn ins Massengrab geworfen, sagte man mir, eine Blatternepidemie wütete damals gerade… «

      Studer zog sein Ringbuch, um dem Absatz über »Cleman Alois Victor« einen Nachtrag zu

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