Standgericht. Franz Taut
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Wo waren die anderen geblieben? Hatten die Partisanen sie erwischt?
Was war wohl dieses Ding vor ihm auf der Straße? Ein abgeschossener Panzer? Oder vielleicht … er wollte es sehen. Vielleicht fand er etwas Brauchbares.
Vorsichtig glitt sein Schatten über den schmalen Wiesenstreifen, der den Wald von der Landstraße trennte. Die Handfläche, mit der er den Revolverkolben umklammert hielt, war feucht.
Und dann erkannte er, was da vor ihm stand: ein deutscher Lastwagen mit geschlossener Plane, mit Tarnzweigen bedeckt. Eine irre Hoffnung raubte ihm schier den Atem. Aber dann sagte er sich, dass es kindisch war zu glauben, der Wagen sei fahrbereit. Warum hätten sie ihn dann stehengelassen? Jabos? Panik? Wahrscheinlich hatte die Kiste nicht mehr gewollt.
Neben dem Fahrerhaus blieb er einige Augenblicke stehen. Das mahlende Geräusch der Panzermotoren näherte sich. Die Tür stand weit offen. Er stieg ein. Die Scheiben waren zersplittert, die Windschutzscheibe war von winzigen Rissen geädert. Genau vor seinem Gesicht befand sich ein kopfgroßes, rundes Loch. Aber im Führerhaus lag kein Toter.
Es war ein Dreitonner Opel. Der Zündschlüssel steckte. Natürlich, dachte Klingler, man lässt ihn immer stecken, wenn man plötzlich abhauen muss, wer kümmert sich um so eine Kiste, die einem nicht gehört? Und mehr, um seine Überzeugung bestätigt zu sehen, dass der Wagen unbrauchbar sei, als auf Erfolg hoffend, trat er auf den Anlasser und drehte den Zündschlüssel.
Rrrrr – rrrr. Das hässliche Geräusch musste kilometerweit zu hören sein.
Klingler probierte es noch einmal. Nichts.
Lauschend beugte er sich durch den leeren Fensterrahmen. Die Panzer waren nicht mehr weit. Wenn sie ihn hier erwischten … wenn ihn die Amerikaner überhaupt erwischten … Noch hatte er ein wenig Zeit.
Sprit?
Der Benzinanzeiger schlug aus, als er den Schlüssel nochmals drehte. Viel war es nicht mehr, vielleicht 15 oder 20 Liter. Himmel, wie weit konnte er damit kommen?
Der Gedanke, dass es vielleicht doch klappen könnte, trieb ihm Schweiß auf das Gesicht. Behende kletterte er aus der Kabine, sah sich um, stemmte sich gegen das Fahrzeug. Es musste doch gehen, die Straße fiel ab, nicht viel, aber immerhin genug … wenn er den Wagen nur in Bewegung bringen könnte! Verzweifelt schob er, dass er glaubte, seine Muskeln müssten zerreißen.
Wenn jetzt nur die anderen da wären! Würde er jemals erfahren, was aus ihnen geworden war?
Lange rührte der Wagen sich nicht. Drei Tonnen, dachte er, drei Tonnen, wie soll ich Idiot allein drei Tonnen anschieben?
Er lief um den Wagen und glättete mit der Handfläche fieberhaft die rauhe Oberfläche der Straße. Lag’s an diesem Stein? Er schob ihn weg, lief wieder vor, stemmte sich mit aller Kraft gegen den Kotflügel.
Der Wagen begann zu rollen. Es ging immer schneller. Klingler sprang auf, packte das Lenkrad, trat die Kupplung, zweiter Gang, noch war der Wagen nicht schnell genug, er wartete – jetzt!
Langsam ließ er die Kupplung nach. Der Lastwagen ruckte, wurde langsam – da die erste Zündung … noch eine … und auf einmal war der Motor da. Klingler gab mehr Gas. Dritter Gang.
Was er vorhatte, war – mit Vernunft betrachtet – heller Wahnsinn, und er sagte sich dies auch. Aber was blieb ihm anderes übrig? In diesem dichtbesiedelten Land hatte er zu Fuß keine Chance, die eigenen Linien zu erreichen. Mit dem Wagen konnte er vielleicht durchbrechen.
Vielleicht? Nein, es war unmöglich. Aber er hatte einen Amerikaner erschlagen, der sein Soldbuch in der Tasche hatte. Er musste einfach nach Osten, zurück zu den eigenen Leuten. Hinter jeder Straßenbiegung, hinter jedem Waldstück, in jedem Dorf konnten amerikanische Posten stehen. Durchbrach er die erste Kette, wurde die zweite alarmiert und – aus. Oder Panzer konnten die Straße blockieren. Und doch musste er es einfach wagen.
Über das Lenkrad gebeugt, durch das Loch in der Scheibe starrend, durch das der Fahrtwind pfiff, fuhr er dem grauen Band der Landstraße nach, das durch die Dunkelheit zu dem Wetterleuchten der Front führte, den langsam aufsteigenden Leuchtkugeln und dem heftigen Rumoren des Artilleriefeuers entgegen.
Die Häftlinge schanzten in der Gegend östlich Verviers, eine waldreiche Gegend, die Nordausläufer des Hohen Venn. Pioniere hatten das Schanzzeug geliefert. Schützenlöcher und Deckungsgräben sollten ausgehoben werden. Für die Nachtruppen, wie das Militär die Verbände von der Nachhut nannte.
Die Maaslinie war trotz der Versicherung des Reichsführers SS Heinrich Himmler geplatzt wie eine Seifenblase. Die Amerikaner hatten Lüttich genommen, vielleicht auch schon Verviers. Die Front war recht nahegerückt, wie gelegentliches, deutlich hörbares MG-Geschnarr oder Artilleriefeuer verrieten.
Oberscharführer Wenzel beaufsichtigte die Arbeiten, hörte das Scharren der Spaten und das Klirren der Pickel. In der Morgendämmerung hatte er Verstärkung bekommen: etwa 100 Ostarbeiter, die aus dem belgischen Kohlenpott hierhergetrieben wurden, angeführt von einigen ratlosen Männern der Organisation Todt. Ein Oberleutnant des Heeres hatte die Gruppe aufgegriffen, hierher verwiesen und unter Wenzels Kommando gestellt: Schanzen.
Wenzel war mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Er war für Ordnung. Hier aber ging alles drunter und drüber. Nun, es würde nicht ewig dauern. In Aachen hatte er alles getan, was möglich war, um so schnell wie möglich neue Befehle zu bekommen. Immerhin hatte das Ganze wenigstens etwas Gutes mit sich gebracht: Der Oberleutnant vom Stab hatte für Verpflegung gesorgt.
»Diese ausgehungerten Vogelscheuchen können ja nicht mal den Spaten heben, wie sollen sie dann schanzen?«, hatte er gesagt.
Jetzt streifte Wenzel durch die Gruppe der Arbeitenden und wusste doch, dass dieses »Beaufsichtigen« nur ein Vorwand war. Er suchte die junge Belgierin mit dem Kind.
Zuerst fand er das Kind. In jetzt halbwegs saubere Windeln gewickelt lag es im Gras, einen Regenmantel untergeschoben. Als Wenzel sich vorbeugte, um einen Blick auf das Gesichtchen zu werfen, schüttelte er überrascht den Kopf. Er hatte etwas Ähnliches erwartet wie im Warschauer Ghetto, wo er einmal auf einer Instruktionsreise gewesen war: einen kleinen, hautüberzogenen Totenkopf mit tiefliegenden Augen, den Tod auf die Stirn geschrieben. Aber dieses Kind hier sah gar nicht übel aus, es schlief, die halbgeschlossenen Fäuste neben dem kleinen Gesicht.
»Monsieur?«
Wenzel fuhr herum. Die Mutter – Jacqueline Doignon, 24 Jahre alt, wie Wenzel noch in der Nacht in ihren Papieren festgestellt hatte – stand hinter ihm und sah ihn an. Sie war kaum wiederzuerkennen. Schlank, zierlich, kastanienbraunes Haar, große, fragende und erschrockene Augen, die das tiefe Grau eines wolkenverhangenen Himmels hatten. Ihr Rock und der Pullover waren, man sah es, gewaschen, ihre Füße steckten in derben Schuhen. Langsam, ohne den Blick von Wenzels Gesicht zu lösen, ging sie um ihn herum und kniete neben dem Kind nieder.
»Monsieur?«, fragte sie wieder, und Wenzel entgegnete beruhigend: »Na, na, ich tu’ ihm schon nichts. Oder ist’s ein Mädchen?«
»Ein Junge«, antwortete die Frau.
»Wie alt?« Wenzel wusste es, er hatte es in den Papieren gelesen. Und er schalt sich selbst einen Narren, weil er verlegen war, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, und weil er nicht imstande war, die unsichtbare Mauer der Unnahbarkeit und der Angst zu durchbrechen, die diese Frau umgab, .
»Sechs