Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer
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Die zweite Beobachtung betrifft den Aufstieg der Disruption (engl. disruption für »Störung, Unterbrechung, Bruch, Spaltung, Zerrissenheit, Zerrüttung«) oder der krisenhaften Zusammenbrüche. Technik, Terrorismus, Trump. Klimakatastrophe. Konfliktzonen. Polarisierung. Wir leben in einem Zeitalter der Disruption. Jede Überprüfung der grundlegenden Antriebskräfte überzeugt uns davon, dass das Tempo der Disruption weiterhin zunehmen und nicht abnehmen wird. Bei einigen dieser Kräfte und Trends ist es zu spät, um die Entwicklung umzukehren. Wenn wir also das Tempo der äußeren Disruption nicht steuern können, was können wir dann, wenn überhaupt, steuern?
Das Einzige, was wir wirklich kontrollieren oder gestalten können, ist unsere innere Reaktion: Wie wir damit umgehen, wenn die Disruption zuschlägt.
•Erstarren wir und halten an bestehenden Mustern (»Durchwurschteln«) fest?
•Verschließen wir uns und kehren wieder zu alten, intuitiven Verhaltensweisen zurück (bewegen uns rückwärts)?
•Oder öffnen wir uns und lehnen uns in das, was entstehen möchte, hinein (bewegen uns vorwärts)?
Die Zukunft unserer sozialen Systeme, Gesellschaften und des Planeten als Ganzen hängt in nicht geringem Maße von den Entscheidungen ab, die wir in diesen Momenten treffen:
•Die erste Reaktion (Durchwurschteln: mehr vom Selben) erzeugt noch mehr Chaos, Zusammenbrüche und Leiden.
•Die zweite Reaktion (Zurückbewegen: dichtmachen) erzeugt sogar noch schlimmere Ergebnisse wie Rassismus oder Faschismus.
•Einzig die dritte Option (Vorwärtsbewegen: sich öffnen) schafft Raum für das gemeinsame Erspüren dessen, was geschieht, einen Raum zum Loslassen des Alten und gemeinsamen Gestalten des Neuen.
Bild 3 stellt diese Situation dar. Was also ist der Schlüssel? Was bestimmt darüber, ob wir auf eine Disruptionssituation reagieren, indem wir uns 1) durchwurschteln, 2) rückwärtsbewegen oder 3) vorwärtsbewegen?
Der Schlüssel liegt darin, die Worte über der Zeichnung zu verstehen: Die Probleme im Außen sind ein Spiegel der Probleme im Innern. Dieser Satz fasst die neue Arbeit der Führenden und Veränderungsakteure zusammen – und er fasst auch das Terrain zusammen, das wir durch dieses ganze Buch erforschen werden. Bei der neuen Arbeit der Führungskräfte geht es darum, einen inneren Raum des Haltens zu entwickeln – einen Raum, der uns inmitten widerstreitender Informationen und Interessen, inmitten der Konfusion, die Menschen zu Zorn, Angst und Verzweiflung treibt, unseren Kurs finden lässt.
Beobachtung 3: Der Aufstieg des Absencing
Die dritte Beobachtung betrifft das Phänomen des Absencing. Jeder Ansatz oder jedes gesellschaftliche Bezugssystem, das den massiven Anstieg des Fundamentalismus und des Absencing in unserer Welt nicht berücksichtigt, geht an den Kräften vorbei, die unsere Realität mitgestalten.
Was mich in den letzten zehn Jahren überrascht hat, ist, dass zwar sehr viele Menschen das Konzept des Presencing (das in Teil I und II dieses Buches behandelt wird) aufgegriffen haben, aber fast niemand mit dem korrespondierenden Konzept des Absencing (das in Teil III entwickelt wird). Es ist tatsächlich nicht möglich, das eine ohne das andere zu verstehen. Unsere derzeitige Realität ist voll von eindrucksvollen Beispielen für Presencing ebenso wie Absencing. Lassen Sie mich erklären:
Abb. V.1 zeigt das Aufeinanderprallen zweier Denkwelten, die jeweils zu einer anderen Dynamik und einem anderen sozialen Feld führen: Presencing – der Zustand des gemeinsamen Erspürens und Gestaltens der entstehenden Zukunft, indem wir unsere inneren Wissensinstrumente öffnen; und Absencing – der Zustand der Loslösung von anderen (Nichtsehen, »Entfühlen«) und von uns selbst, der zur Zerstörung anderer und schließlich zur Selbstzerstörung führt. Im Zustand des Presencing wirken wir gestützt auf eine Öffnung von Denken, Herz und Willen. Im Gegensatz dazu handeln wir im Zustand des Absencing unter den entgegengesetzten inneren Bedingungen: Wir stecken in einer Wahrheit fest, in einer kollektiven Haut und in einem fanatischen Willen.
Abb. V.1: Zwei Zyklen, zwei soziale Felder: Absencing und Presencing
Lassen Sie uns mit diesen Gedanken im Hinterkopf nochmals zu den drei Reaktionen auf disruptive Situationen zurückkehren und sie im Kontext der inneren Bedingungen betrachten, die in Abb. V.1 wiedergegeben sind. Ob in den beiden Teilen Amerikas, in Afrika, Asien, Australien oder Europa – die öffentliche Debatte über alle großen Probleme – einschließlich Klimawandel, Flüchtlingskrise, Terrorismus und viele andere – fällt tendenziell immer in eine der drei folgenden Reaktionskategorien:
1) Durchwurschteln: Diese Reaktion bezeichne ich häufig als Downloading oder Runterladen. Alles geht so weiter wie immer – mehr Meetings, mehr Erklärungen, mehr leere Worte. Denken Sie an die Gipfel über Flüchtlinge, Armut, den Nahostkonflikt, Klimawandel und die meisten anderen Themen, die globale Gemeingüter betreffen.
2) Auseinanderbewegen: Im Raum des Absencing erkennen wir den Zusammenbruch des Systems und die Tatsache, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Doch aus unserer Sicht sind nicht »wir«, sondern »die anderen« (»sie«) das Problem. Also errichten wir eine Mauer um uns, um »sie« fernzuhalten. Die Errichtung einer Mauer, die uns von den anderen trennt, ist buchstäblich das, wofür die meisten republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten und alle Parteiführer der extremen Rechten in Europa in der jüngeren Geschichte plädiert haben; historisch betrachtet, ist die Reaktion der Bush-Regierung auf 9/11 (»Bombt sie zur Hölle!«) ein weiteres Beispiel. Die Ergebnisse, zwölf Jahre und vier Billionen Dollar später, nach zigtausend Toten und dem Versinken einer ganzen Weltregion im Chaos, werden uns weiter heimsuchen, da der sogenannte Islamische Staat (IS oder ISIS für Islamischer Staat im Irak und in Syrien) und andere Vertreter des Terrors fest in der Feldlogik des Absencing verhaftet sind.
3) Gemeinsam bewegen: Im Raum des Presencing hingegen werden die Mauern eingerissen, und eine neue Architektur der Kollaboration und Verbundenheit nimmt Gestalt an. Beim Umgang mit jeglicher komplexen Herausforderung unserer Zeit wird einem sehr schnell klar, dass es nichts gibt, was ein einzelnes Unternehmen oder eine einzelnes Land allein tun könnte. Deshalb müssen nachhaltige Lösungen ein gesamtes globales Ökosystem von Partnern und Akteuren umfassen. Damit uns das gelingt, müssen wir uns unserer eigenen Rolle bei der gemeinsamen Verursachung des Problems bewusst werden und dann antreten, um gemeinsam andere Vorgehensweisen zu gestalten. Im Fall der europäischen Flüchtlingskrise zum Beispiel haben Angela Merkel in Deutschland, Stefan Löfven in Schweden und viele Bürger und Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations, NGOs) mutige Schritte in diese Richtung getan. Doch wie die innenpolitischen Gegenreaktionen zeigen, ist die Realität voller Widersprüche und stellt uns alle durch ihre Entwicklung immer wieder vor neue Herausforderungen.
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