Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells. Andreas Suchanek
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Entgegen jedem Instinkt folgten sie ihm. Und stießen auf weitere Totenschädel. Hier unten waren Menschen begraben worden. Der Gedanke, irgendwo in Deutschland gelandet zu sein, drängte Ally sich auf. Was würden sie mit ihnen beiden machen, wenn sie dort auftauchten?
Von Kopf bis Fuß in englischer Kleidung steckend. Sie würden sofort erkennen, dass sie keine Deutschen waren. Dann folgte eine Verhaftung, eine Untersuchung. Die unausweichliche Entlarvung.
»Halte dich bereit«, flüsterte Harry.
Die Angst war wieder da.
In der Ferne zeichnete sich Tageslicht ab, endlich traten sie hinaus ins Freie. Ally ließ die Lichtkugel erlöschen.
Es war nicht Deutschland.
Leider blieb der Gestank auch über der Erde bestehen. Etwas Ähnliches hatte Ally noch nie gerochen. Als hatte jemand den Müll der Welt überall verteilt.
»Sind das … Kutschen.« Harry deutete auf eine nahe Straße.
Und tatsächlich.
Menschen schritten zügig aus, Kutschen ratterten vorbei, Unrat lag überall.
Ally hatte nur Augen für die weiten Röcke der Frauen, die Sonnenschirme und Droschken. All das wirkte wie einer längst vergangenen Zeit entsprungen.
Sie musste nur eines der Gesichter betrachten, um zu erkennen, in welchem Land sie sich befanden. »Das ist Frankreich.«
Paris konnte es nicht sein, denn der Eiffelturm hätte alles überragt. Aber wo waren sie dann?
Und noch etwas fiel ihr auf.
Es gab keine deutschen Flaggen.
»Stand in der Zeitung nicht, dass die Deutschen Frankreich schon lange eingenommen haben?«, fragte ihr Bruder leise. »In Paris wehen an jeder Ecke Hakenkreuzfahnen.«
»Vielleicht ist das hier eine Stadt der Résistance?«
Nun bedachte sie Harry wieder mit dem Hysterie-Blick. »Eine gesamte Stadt? Wie soll das denn gehen?« Er schaute zurück auf die Menschen. »Wir fallen schon auf.«
»Du liebst die Geschichte doch so sehr?«, sagte Ally. »Sag du es mir.«
»Ich habe keine Ahnung«, flüsterte Harry.
Hälse wurden gereckt, Finger gezeigt.
»Mach es noch mal«, bat ihr Bruder. »Deinen Trick mit diesem Trugbild. Aber verpasse uns dieses Mal bessere Kleidung damit.«
Ally malte erneut Symbole in die Luft, kurz darauf schimmerte sauberer Stoff mit französischem Einschlag auf ihren Körpern.
Sie betraten die Stadt, ließen sich von der Menge treiben.
Nach einigen Minuten trafen sie auf einen Jungen, der Zeitungen schwenkte. Ein gut gekleideter Herr bezahlte eine davon und eilte weiter. Nach kurzem Blick auf die Titelseite warf er das Blatt jedoch kopfschüttelnd beiseite.
Ally rannte zu der Stelle und hob sie auf.
Sie konnte Französisch, doch was sie interessierte, hätte sie in jeder Sprache erkannt. Am rechten oberen Rand standen der Ort und die Zeit.
Harry trat neben sie. »Was ist?«
»Wir sind in Paris«, hauchte sie.
»Das kann nicht sein. Wo ist der Eiffelturm?«
Ally ließ das Papier sinken. »Noch nicht gebaut. Die Apparatur hat uns nicht nur an einen anderen Ort getragen.«
»Wie meinst du das?«
»Schau auf das Datum. 1744. Wir sind über zweihundert Jahre in die Vergangenheit gereist.«
Ally schaute auf all die Männer und Frauen.
Sie wussten nichts von Krieg und Verderben, lebten einen uralten Frieden, der längst gestorben war.
»Zweihundert Jahre«, hauchte sie.
Was jetzt?
Die Erkenntnis über Ort und Zeit hallte in Allys Körper wider, als sei dieser der Resonanzkörper einer Geige. Sie waren dem Krieg entronnen und in einer Epoche gelandet, in der keine unmittelbare Lebensgefahr drohte.
Gleichzeitig waren sie so fremd wie nie zuvor.
Sie streiften durch die Gassen, und bereits nach wenigen Schritten verlegten sie sich darauf, ausschließlich durch den Mund, aber keine Sekunde länger durch die Nase zu atmen. Der Gestank war allgegenwärtig. Paris war eine schmutzige Stadt, wie es auch London und alle anderen Großstädte der Welt einst gewesen waren.
»Wir werden die Pest bekommen und sterben«, sagte Harry mit grün angelaufenem Gesicht.
»Falsche Zeit«, erklärte sie, obgleich er das natürlich wusste.
Andererseits mochte in diesen Bergen aus Dreck, Müll und Schlamm durchaus noch die eine oder andere tödliche Krankheit lauern.
Ein deutliches Magenknurren signalisierte Ally, dass ihr Körper trotz der Umgebung seinen Tribut forderte. Sie kramte in ihrem Geist nach möglichen Auswegen. Die Illusionierung – immer mehr Worte kamen an die Oberfläche, andere entzogen sich vollständig – gaukelte den Menschen ein Trugbild vor. In der sauberen Kleidung fügten die beiden sich ein, konnten durchaus als den gehobenen Schichten entstammend durchgehen. Leider gab es die dazugehörige Geldbörse nicht.
Irgendwann stießen sie auf eine Ansammlung kleiner Läden und dann, endlich – einen Markt.
»Das ist seltsam.« Harry betrachtete die Auslagen. »Sie verlangen Bernsteinkörner als Bezahlung.«
In diesem Augenblick war Ally dankbar für die Bildung, die ihre Eltern stets verlangt hatten. Harry und sie sprachen fließend Spanisch, Deutsch, Englisch, Französisch und gebrochen Russisch.
Der Gedanke an ihre Eltern zog Ally die Brust zusammen.
Sie schüttelte den Kopf, verdrängte die Bilder von Blut, Schlägen, Tritten und konzentrierte sich auf das aktuelle Problem.
»Hattest du etwas in den Geschichtsbüchern dazu gelesen?«, fragte sie Harry.
Er war das Ass, wenn es um historische Ereignisse ging. Geschichte war sein Steckenpferd. Ally interessierte sich für … so ziemlich alles andere.
»Die Währung in Paris hat öfter gewechselt, aber ganz sicher haben die Franzosen 1744 nicht mit Bernstein bezahlt.« Er sah sich kopfschüttelnd um. »So etwas hätten sich die gewöhnlichen Franzosen gar nicht leisten können.«
Nun, letztlich spielte das nur eine untergeordnete Rolle. Sie besaßen weder Gold noch Bernstein oder irgendeine andere Währung. Nicht einmal Pfund hatten sie in der Gegenwart besessen. Nicht mehr.
»Es