Rätsel. Jan Morris
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Aber in den Stunden, die wir täglich in der Kathedrale verbrachten, konnte ich ganz ich selbst sein. Dort erlangte ich ein kindliches Nirwana. In meinen hellroten, weißen und scharlachfarbenen Gewändern, inspiriert von der Musik, dem Text und den Noten gleichermaßen, war ich ja eigentlich sowieso kein Junge, ich hatte mich in einer Apotheose der Unschuld gewandelt, nach der ich auch heute noch strebe – nicht so unmittelbar wie die selbstvergessenen Stunden im Schatten der Kastanienbäume, doch umfassender in ihrer befreienden Wirkung. Vielleicht ist Klosterschwestern so zumute. In jedem Falle war ich mir sicher, dass ich die Geister dieses Ortes auf meiner Seite hatte; dass sie genau verstanden, was ich mir wünschte. Wie hätte es denn anders sein können? Die edelsten Züge der Liturgie strebten ja nach dem, was mir das weibliche Prinzip schien. Selbst unsere Gewänder schienen dazu da, das Männliche in uns zu leugnen, und die schönste aller Gestalten der christlichen Erzählung, um vieles vollkommener und geheimnisvoller als Christus selbst, war für mich die Jungfrau Maria, deren Gegenwart sich so fremd und elegant in die Evangelien wob, sie selbst schließlich auch ein Rätsel.
Auf diese arglose, wenn auch rührselige Art beschwingt, malte ich mir aus, wie ich die Hülle meines Körpers abwerfen würde, und hervor käme die Reinheit meines wahren Wesens – schlicht und einfach und für immer befreit. Allabendlich bat ich im Gebet darum. Abend für Abend folgte dem Tischgebet – »Möge die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gesellschaft des Heiligen Geistes mit uns sein« – ein Augenblick der Andacht. In diesen stillen Sekunden, in denen die Besseren unter uns vermutlich Vergebung oder Erleuchtung erflehten, flocht ich während meiner ganzen Jugendzeit tagäglich in weit weniger nobler, doch deswegen nicht minder ernst gemeinter Inbrunst im Geiste ein: »Und bitte, lieber Gott, lass mich ein Mädchen sein. Amen.«
Wie Er das bewerkstelligen sollte, davon hatte ich keine Ahnung, und was ich mir denn nun im Einzelnen wünschte, blieb zweifellos so unbestimmt wie eh und je. Den Unterschied zwischen den Geschlechtern kannte ich ja ohnehin kaum, hatte kaum einmal, wenn überhaupt, einen nackten Frauenleib gesehen und betete ohne Verstand, einfach nur intuitiv. Aber der Drang war absolut, er war unbezwingbar, und die Tage, die ich in der Kathedrale verbrachte, heiligten ihn offenbar und machten mir Mut. Mir schien, es gab Kräfte dort, die mir helfen würden, wenn der Tag dafür kam. Ich verzweifelte nicht, und da ich von Natur aus ein fröhliches Kind war und, weil die Umstände es gut mit mir meinten, ein glückliches, gelang es mir, es so einzurichten, dass ich mein Geheimnis eher als ein Versprechen hegte, statt dass es mich als Last bedrückte. »Ich will über alles lachen«, sagt Beaumarchais’ Barbier, »denn sonst müsste ich darüber weinen.« Das alles soll nicht heißen, dass ich geglaubt hätte, ich spürte ein göttliches Walten in mir; aber es war doch so, dass diese Einflüsse meiner Kindheit, diese so englische Form der Toleranz, die Stimmungen und Einstellungen, für die der Name Oxford steht, der Trost des Christlichen, wenn auch nur von dessen äußerer Gestalt, ihren Zauber um all meine Unschlüssigkeiten woben, ihnen eine Seele gaben. Manch einer mag am transsexuellen Impuls etwas Groteskes finden, aber mir ist er niemals beschämend, ja nicht einmal unnatürlich vorgekommen. Ich halte es mit Goethe.
3
Sex und das Rätsel in mir – auf dem Heuboden – Bolsover d. Ä. und das Geschlecht
Manchmal habe ich mich gefragt, ob andere in derselben Zwangslage waren, und einmal habe ich bei einem besonders guten Schulfreund vorsichtig versucht, die Sprache darauf zu bringen. Mir war der Gedanke gekommen, dass womöglich meine Verfassung etwas vollkommen Normales war und jeder Junge sich wünschte, ein Mädchen zu werden. Das schien doch nur logisch, wenn Frauen sämtlich so großartige und bewundernswerte Wesen waren, wie Geschichte, Religion und Benimmregeln uns gemeinschaftlich versicherten. Allerdings verlor ich diese Illusion schnell wieder, denn mein Freund bog meine Frage mit Gusto in einen schmutzigen Witz um, und ich zog sie eilig zurück, kichernd und verlegen.
Dass mein Dilemma tatsächlich von meinen Geschlechtsorganen herrührte, kam mir damals nicht in den Sinn und scheint mir auch heute noch unwahrscheinlich. Bald war ich alt genug für die Public School, und dort in Lancing lernte ich sehr genau die Fakten der menschlichen Reproduktion; sie schienen mir arg prosaisch. Das finde ich bis heute. Da wunderte es mich überhaupt nicht, dass Maria mit der Schönheit einer jungfräulichen Geburt gesegnet worden war, denn nichts konnte für meine Begriffe unpoetischer sein als die Mechanik des Geschlechtsverkehrs, etwas, das jedes Lebewesen ohne Weiteres tun kann, ja, das sehr leicht sogar künstlich funktioniert. Dass meine unausgegorenen Sehnsüchte, geboren aus Wind und Sonnenschein, aus Musik und Tagträumen – dass mein Rätsel einfach eine Frage von Penis oder Vagina sein sollte, von Hoden und Gebärmutter, scheint mir bis heute eine abwegige Vorstellung, denn es ging doch nicht um meinen Fortpflanzungsapparat, sondern um mein Ich.
Wenn es damals irgendwo auf der Welt eine Institution gab, die mich hätte überzeugen können, dass ein Männerleben dem weiblichen vorzuziehen war, dann war es bestimmt nicht Lancing College. Inzwischen hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, und die Schule residierte nicht mehr in ihren prachtvollen Gebäuden in Sussex, sondern in einer Ansammlung von Landhäusern in Shropshire. Ich vermute, sie hatte dadurch viel von ihrer Geschlossenheit und Selbstgewissheit verloren; jedenfalls erwies sie sich nach der Seligkeit von Oxford und der beschwingten Großzügigkeit zu Hause als enttäuschend stillos, und nichts an dieser Schule fand ich aufregend, nichts gab mir das verlorene Gefühl des Heiligen zurück.
Ich war nie wirklich unglücklich dort, aber die ganze Zeit über hatte ich Angst. Die Lehrerschaft war durchweg freundlich, doch das grässliche Präfektensystem konnte sehr grausam sein. Ich kam ständig in Schwierigkeiten, meistens durch dumme Fehler meinerseits, und bezog häufiger Prügel als jeder andere Junge in meinem Haus. Ein albernes, gehässiges Ritual gehörte dazu, wenn man vom Hausvorsteher geschlagen wurde. Der Kellerraum war mit Decken oder Vorhängen ausgehängt, wodurch er tatsächlich wie eine Folterkammer wirkte, und sämtliche anderen Präfekten assistierten. Ich war jedes Mal krank vor Angst, und selbst heute, dreißig Jahre später, ist mir noch unwohl, wenn ich daran denke. Und nichts was ich später als Drill bei der britischen Armee kennenlernen sollte, kein Feldwebelgebrüll und kein Sarkasmus der Adjutanten, war so angsteinflößend wie das Regime des Lancing College Officers Training Corps mit seinen Paraden jeden Donnerstagnachmittag, bei denen alle zur Teilnahme verpflichtet waren. Wir trugen Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg und exerzierten mit Gewehren aus dem 19. Jahrhundert, kürzlich den Italienern in Nordafrika abgenommen, und allein schon ein Knopf, der nicht genug glänzte, eine schief gewickelte Gamasche genügte, um angebrüllt zu werden. Zwanzig Jahre oder noch länger ist mir der Schrecken dieser Paraden im Traum erschienen, die stechenden blassblauen Augen des Fähnrichsanwärters, wie er sich mir bei der Parade spöttisch und erwartungsvoll näherte (denn wenn ich tatsächlich einmal da war, das heißt niemanden davon überzeugen konnte, dass ich mir den Knöchel verstaucht oder eine schwere Erkältung hatte, dann war mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ich derjenige, an dessen Aufzug sich etwas aussetzen ließ).
An dieser Art Gesellschaft wollte ich keinen Anteil. Ich verließ Lancing zum frühestmöglichen Zeitpunkt und meldete mich mit siebzehn freiwillig zur Armee, und wenn ich an meine Jahre auf dieser Schule zurückdenke, fallen mir nur zwei Dinge ein, die mir Freude gemacht haben. Eins war das Vergnügen, auf meinem Fahrrad das walisische Grenzland zu erkunden; das andere Vergnügen war Sex. Wenn ich zu den farnkrautüberwucherten Hügeln zog oder die Burgen erkundete, die über diese lang umkämpfte