Komplexitätsmanagement. Michael Reiss
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Eine häufig auftretende Variante von Eigenkomplexität ist die Eigendynamik, sprich unkontrollierte Formen von Veränderungen. Wahlsysteme wie z. B. die personalisierte Verhältniswahl ermöglichen grundsätzlich eine Komplexitätsreduktion via Selektion. Sie können aber gleichzeitig aufgrund ihrer eingebauten Komplexität mit einem erheblichen Ermittlungs- und Berechnungsbedarf einhergehen. Sogenannte Linking-Pin-Modelle sollen die Motivations- und Koordinationsschwachstellen von Hierarchien kompensieren. Gleichzeitig generieren sie zwei Komplexitätsbedarfe: Zum einen durch die flächendeckende Schichtenarchitektur, bei der eine weiterhin bestehende hierarchische Primärorganisation mit einer Sekundärorganisation aus Gruppen überlagert wird. Zum anderen durch die Doppelzugehörigkeit einiger Akteure zu zwei Gruppen im Gefolge der Überlappung von Gruppen. Mit anderen Worten sollte stets ein Netto-Potenzial (Brutto-Potenzial minus Eigenkomplexität) ermittelt werden, da nur dieses für das Meistern der jeweiligen Komplexitätslast faktisch zur Verfügung steht.
Diese Netto-Betrachtung darf allerdings nicht gleichgesetzt werden mit einer umfassenden Saldierung der Vorteile und Nachteile von Komplexitätspotenzialen. Solche Pro-Contra-Bewertungsansätze erfassen den »Mixed Blessing-Charakter« aller Komplexitätskonzepte. Die Liste der Nachteile von Komplexitätspotenzialen enthält jedoch in aller Regel neben der Eigenkomplexität noch weitere inhaltsfokussierte Negativ-Bewertungen. Dies gilt beispielsweise für die Janusköpfigkeit von zeitlichen Distanzen, etwa dem Vorlauf von Planungsaktivitäten als Voraussetzung für ein proaktives Management: Ein solcher Vorlauf ist einerseits positiv zu bewerten, d. h. als Chancenpotenzial für Lernprozesse und als Potenzial für die Konzeption präventiver Maßnahmen. Andererseits handelt es sich um einen Risikoaspekt, weil sich in diesem Zeitraum möglicherweise die Kontextgegebenheiten verändern und die Informationsbasis für die Planung dadurch obsolet werden kann.
• Bedarf-Potenzial-Abhängigkeiten: Zwischen Komplexitätslast und Komplexitätspotenzial bestehen Abhängigkeiten (
1.2.3 Dimensionen der Komplexität
Bei der Komplexität handelt es sich um ein mehrdimensionales Konstrukt (Kirchhof 2003; Allen/ Varga/ Strathern 2010; Nedopil/ Steger/ Ammann 2011; Raynard 2016, S. 312 ff.; Bretzke 2020, S. 45 ff.). Eindimensionale Konzepte, die alternativ entweder Größe (z. B. Anzahl der Stakeholder oder der Iterationen, Massenproduktion) oder Unsicherheit (z. B. Zufälligkeit, Diskontinuität, Turbulenz) fokussieren, sind nicht in der Lage, alle relevanten Komplexitätsaspekte zu erfassen. Ebenso inadäquat ist es, Komplexität lediglich anhand der Zahl der Wissenselemente und der Zahl der Interdependenzen zu messen (Simon 1962). Selbst zweidimensionale Modelle wie die Duncan-Matrix (Komplexität und Dynamik, Duncan 1972), die Stacey-Matrix (Spezifikationsdefizite von Problem und von Problemlösung, Stacey 1997), das Cynefin-Modell (Snowden/ Boone 2007), der Boston Consulting-Ansatz (Diversity und Dynamism), Verknüpfungen von Vielzahl/ Vielfalt und Veränderung/ Eigendynamik (Ulrich/ Probst 1995, S. 249 ff.) sind unterdimensioniert. Selbst dreidimensionale Ansätze wie das Diversität-Ambiguität-Turbulenz-Modell erfassen nicht alle Facetten der Komplexität, weil sie deren dimensionale Metakomplexität unterschätzen.
Als brauchbarer erweisen sich vierdimensionale Modelle wie das sogenannte VUCA- oder VUKA-Weltmodell (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) oder die vier »Vs of Big Data« (Volume, Variety, Velocity und Veracity) von IBM. Ihnen mangelt es dennoch an Ganzheitlichkeit, weil die Verbundbeziehungen zwischen den einzelnen Dimensionen ungeklärt bleiben. Folglich werden Komplexitätskonstrukte wie Hybridität, Ungewissheit, Diversity, Interdisziplinarität, Agilität sowie einige komplexitätsaffine Anti-Patterns (z. B. Paralyse durch Analyse) als separate Phänomene und nicht als Facetten eines mehrdimensionalen Komplexitätskonstrukts behandelt. Besser geeignet ist das vierdimensionale Modell aus Vielzahl, Vielfalt, Vieldeutigkeit und Veränderlichkeit (Reiss 2020, S. 8 ff.; Reiss 2013, S. 78). Die Beispiele für hohe Komplexität in Abbildung 2 veranschaulichen sowohl die Komplexitätslast (Listen auf den jeweiligen linken Seiten) als auch das Komplexitätspotenzial (Listen auf den rechten Seiten).
Abb. 2: Dimensionen der Komplexität
Zur Konkretisierung und Ergänzung der generisch gehaltenen Auflistungen in Abbildung 2 lässt sich die Mehrdimensionalität von Komplexität anhand einiger markanter Beispiele für hohe bzw. für niedrige Komplexität auf den vier Dimensionen charakterisieren:
Vielzahl: Typische Beispiele für Vielzahl sind Massen (z. B. Massenproduktion, kritische Masse), Mächtigkeit (von Mengen), Mehrheiten, Produkt- und Datenmengen (z. B. Mengengerüst von Kosten, Mengenrabatte, große Datenmengen wie Big Data oder Data Deluge), Häufigkeiten (z. B. Prävalenz und Inzidenz von Krankheitsfällen in einer Population), Dichte (z. B. Zahl existierender zur Zahl möglicher Netzwerkbeziehungen), Lines of Code, Anzahl von Iterationen, Multihoming (ein Rechner wird z. B. sowohl mit einem WLAN als auch einem VPN verbunden), Zeitkomplexität eines Lösungsverfahrens (größte Anzahl der zur Problemlösung benötigten Elementaroperationen), Anzahl von Zwischenstationen (z. B. Router, Umsteigen, Zwischenlandungen, Stopps eines Fahrstuhls, Hop Count) oder die Pfaddistanz in Netzwerken, also die kürzeste Verbindung zwischen zwei Netzwerkknoten. Hinzu kommen Distanzen in Raum und Zeit, z. B. Kreditlaufzeiten, Realzeitkommunikation oder On-Demand-Bereitstellung, d. h. eine kurze Distanz zwischen Bestellzeitpunkt und Produktionszeitpunkt.
Vielfalt: Sie erfasst das gleichzeitige Vorkommen von Elementen mit unterschiedlich ausgeprägten Merkmalen in einer Domäne. Vielfalt tritt beispielsweise auf in Form von Arbeitsteilung, Dezentralisation, Delegation und Machtteilung, z. B. der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Eine schwach ausgeprägte Vielfalt kennzeichnet beispielsweise den Konformismus, die Monokulturen in der Landwirtschaft oder die reduzierte Artenvielfalt durch Artensterben in der Natur. Komplexe Dual-Konzepte erfassen nicht primär die Vielzahl, sondern die Diversität. Dies belegen beispielsweise das duale Bildungssystem, die duale Einkommenssteuer oder die doppelte Buchführung von Geschäftsvorgängen im Journal (zeitliche Ordnung) und im Hauptbuch (sachliche Ordnung). Vielfalt definiert ferner Zweiliniensysteme (z. B. genderdiverse Doppelspitzen, gewählte Schwerbehindertenvertretung und bestellter Inklusionsbeauftragter) oder Prinzipien wie »Ein Land, zwei Systeme«. Hinzu kommen die Multi-Konzepte, etwa multimodale Logistik, multimediale Produkte, multikulturelle Belegschaften, Multi-Rating-Systeme (z. B. 360 Grad-Feedback), multiple Auditierung nach generischen ISO-Normen sowie nach spezifischen Abnehmernormen, Multi-Jobber, Multifunktionsgeräte (wie z. B. Schweizer Armeemesser, Allwetterreifen, All-in-One-Geräte, etwa Tuner & CD-Player oder Drucker-Scanner-Kopierer sowie