Komplexitätsmanagement. Michael Reiss

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Komplexitätsmanagement - Michael Reiss

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des Versicherungsprinzips ist durch das Spannungsfeld zwischen der Vielzahl (Umfang des Risikoausgleichskollektivs, Gesetz der großen Zahl) einerseits und der Vielfalt, d. h. der Ausgewogenheit von guten und schlechten Risiken, andererseits geprägt. Vieldeutigkeit betrifft nicht nur die Risiken als die generische Ursache für Versicherungen. Hinzu kommen institutionelle Risiken aus den Vertragsbeziehungen, etwa Manipulationsrisiko, Versicherungsbetrug, Doppelversicherung oder die Adverse Selektion. Veränderlichkeit im Versicherungswesen hat u. a. exogene Ursachen, beispielsweise den demographischen Wandel, die Niedrigzins-Konstellation auf Anlagemärkten, vermehrt auftretende Naturkatastrophen oder innovative informationstechnische Infrastrukturen zur Erfassung von Daten über Versicherungsnehmer, etwa für sogenannte Telematik-Tarife in der Kraftfahrzeugversicherung.

      Das Komplexitätsprofil von Demokratie ist geprägt durch das Mehrheitsprinzip (z. B. absolute und einfache Mehrheiten), Mehrparteien-Systeme, Gewaltenteilung, Mischung von direkter und indirekter Willensbildung sowie durch das Gleichheitsprinzip. Dadurch kann z. B. Pluralismus zustande kommen, zusätzlich abgesichert durch einen Minderheitenschutz, um die »Tyrannei der Mehrheit« zu vermeiden. Ein Mehrparteiensystem aus kleineren Parteien erschwert die Prognostizierbarkeit der Regierungsbildung. Der Wechsel von Regierungen geschieht nach einem regelmäßigen Muster (Legislaturperioden, Amtszeiten) oder durch ereignisinduzierte Misstrauensvoten bzw. Rücktritte.

      Unvollständige Komplexitätsprofile beeinträchtigen die Brauchbarkeit der jeweiligen Modelle. Ein Paradebeispiel für lückenhafte Komplexitätsprofile sind die Modelle unter Sicherheit wie z. B. die Kennzahlen der Netzwerkanalyse, Entscheidungsmodelle unter Sicherheit oder Prioritätsregeln. Sie enthalten keinerlei Aussagen über die Komplexitätsdimensionen »Ambiguität«, »Unsicherheit« und »Veränderlichkeit«.

      Zum besseren Verständnis des Wesens der Komplexität sind die vier Dimensionen in Abbildung 2 auf zwei »Archetypen« komprimiert worden: Die beiden Dimensionen der »Sowohl als auch-«, »Konjunktiv-« oder »Additiv«-Komplexität (mitunter auch »Kompliziertheit« oder organisierte Komplexität genannt) können zu Diversität konsolidiert werden, da Diversität stets mindestens zwei Elemente und damit eine Vielzahl impliziert. Analog werden die beiden Dimensionen der »Entweder-Oder-«, »Disjunktiv-« oder »Alternativ«-Komplexität (»unorganisierte Komplexität«) zur Dynamik zusammengefasst, da Veränderlichkeit wie auch Vieldeutigkeit die Identität einer Entität im Laufe der Zeit verringern. Will man eine extrem komprimierte Charakterisierung anhand von Symbolen vornehmen, kann man auf das Summenzeichen (»Σ«) für die Additiv-Komplexität und auf das Fragezeichen (»?«) für die Alternativ-Komplexität zurückgreifen.

      Basierend auf dem Komplexitätskonstrukt aus zwei Komplexitätskomponenten, werden den beiden Komplexitätsbedarfen »Diversität« und »Dynamik« zwei korrespondierende Komplexitätspotenziale zugeordnet: ein Integrationspotenzial zur Bewältigung der Additiv-Komplexität, also von großen Zahlen oder von Heterogenität sowie ein Flexibilitätspotenzial zur Bewältigung von Alternativ-Komplexität, sprich Unschärfe und Volatilität (Bernardes/ Hanna 2009; Farjoun 2010; Kapoor/ Klueter 2015; Pérez Pérez/ Serrano Bedia/López Fernández 2016; Reiss 2018a). »Integration« dient dabei als Sammelbegriff für Aktivitäten der Konfliktlösung, Herstellung von Interoperabilität, für das ganzheitliche Product Lifecycle Management und für die Schaffung von Synergie. »Flexibilität« steht für Ambiguitätstoleranz, Responsiveness, Anpassungsfähigkeit, Wandlungsfähigkeit, Change Readiness und Agilität. In der Organisationsdomäne korrespondiert die Additiv-Komplexität mit dem Komplexitätspotenzial mechanistisch funktionierender Organisationen (d. h. Disziplin, Maschinen-Modell eines Unternehmens, Kommando und Kontrolle), die Alternativ-Komplexität mit dem organischen Funktionieren, also Flexibilität und Anpassungsfähigkeit (z. B. Organismusmodell eines Unternehmens).

      Dieser kompakte zweidimensionale Ansatz ermöglicht auch eine Unterscheidung zwischen »einfacher« und »komplexer« Komplexität: Eine extrem komplexe Komplexitätsbelastung ergibt sich aus einer Kumulation von Diversität und Dynamik. Die parallele Koexistenz von additiver Komplexität (Diversität) und alternativer Komplexität (Dynamik) kennzeichnet die Hyperkomplexität (Jehle/ Hildebrandt/ Meister 2016; Reiss 2018a). Diese Herausforderung geht über die bloße Ausbreitung von Komplexität über die vier Dimensionen, z. B. die Ausbreitung von Volumen in Vielfalt, Vielfalt in Mehrdeutigkeit oder Mehrdeutigkeit in Volatilität hinaus (image Kap. 1.2.5.3). »Integrierte Flexibilität« oder »flexible Integration« bezeichnet das Komplexitätspotenzial zur Handhabung der Hyperkomplexität.

      Vor diesem Hintergrund sollte man bedenken, dass der Oberbegriff »Komplexität« zwei extrem unterschiedliche Arten von Komplexität beinhaltet. Diese Heterogenität lässt sich beispielsweise an zwei komplexitätsfokussierten Interpretationen von »Seltenheit« illustrieren: Zum einen steht »selten« für eine geringe Häufigkeit und damit geringe Additiv-Komplexität, etwa im Fall seltener Krankheiten oder seltener Erden. Zum anderen signalisiert »selten« eine kleine Wahrscheinlichkeit (z. B. des Auftretens schwarzer Schwäne, Hajikazemi et al. 2016) und damit eine hohe Alternativ-Komplexität, also Entropie als Maß der Überraschung durch ein unerwartetes Ereigniss. Analog repräsentieren Hierarchien einerseits eine Variante komplexer Organisationsstrukturen, weil sie infolge vieler und feinkörniger Regelungen eine hohe Additiv-Komplexität aufweisen. Andererseits sind nicht-hierarchische Organisationsformen (z. B. spontane Ordnungen) insofern alternativ-komplex, als sie auf sehr wenigen und interpretationsfähigen Regelungen beruhen, z. B. auf Öffnungsklauseln, unvollständigen Verträgen, »Punktuation«, Documents of Understanding, Absichtserklärungen und Delegation. Dieses inhärente Spannungsfeld unterscheidet Komplexität von anderen multidimensionalen Konstrukten wie z. B. Intelligenz, Macht oder Betriebsklima.

      Aufgrund der vielfältigen Zusammenhänge zwischen den vier Komplexitätsdimensionen (image Kap. 1.2.5.3) besteht die Komplexität jedoch nicht aus zwei stringent getrennten Inseln. Tatsächlich dienen die Verbindungen, z. B. in Form einer Komplexitätsausbreitung über die vier Dimensionen, als Brücken zwischen diesen Inseln. Beispielsweise verwendet man üblicherweise zwei gegensätzliche, aber verbundene Komplexitätsdimensionen zur Charakterisierung von Paradoxien oder Hybridkonstrukten: Zum einen die Vielfalt (»Fusion zweier Welten«, d. h. Sowohl-als-Auch-Charakterisierung), zum anderen die Mehrdeutigkeit (»Mangel an Identität«, d. h. Weder-noch-Charakterisierung).

      Auf der Seite der Komplexitätspotenziale lassen sich die beiden Potenzialkategorien folgendermaßen konkretisieren: Ein Integrationspotenzial besitzen beispielsweise Lebenszyklusmanagement-Ansätze, One Stop Shopping-Modelle (kurze Wege in Einkaufszentren) oder virtuelle Kraftwerke, das sind Cluster aus Dezentralen Erzeugungsanlagen (DEA). Ein Flexibilitätspotenzial wird z. B. durch Slack bereitgestellt, etwa in Gestalt von Puffern, Redundanzstationen, Ausweichterminen, Vertretungen oder Zweitbesetzungen, Nachtragshaushalten, Modellen der Barrierefreiheit sowie diversen »fluiden« Organisationsformen wie die zellulare, fraktale, I-Form-, Lattice-, Spaghetti- oder Freedom-Form-Organisation (Schreyögg/ Sydow 2010).

      Im Gegensatz zu der häufiger auftretenden Akkumulation von Diversität und Dynamik in der Bedarfskomponente besteht ein Risiko des Konflikts zwischen der gleichzeitigen Verfügbarkeit eines Integrationspotenzials für den Umgang mit Diversität und eines Flexibilitätspotenzials für den Umgang mit Turbulenzen. Vordergründig wird diese Gegensätzlichkeit durch die antithetischen Slogans »Big is beautiful!« (wegen des Integrationspotenzials) versus »Small is beautiful!« (wegen des Flexibilitätspotenzials) zum Ausdruck gebracht. Ein Problembewusstsein für das Spannungsverhältnis resultiert auch aus dem sogenannten organisatorischen Dilemma: Es besagt, dass eine heterogene Teamkonfiguration zwar Flexibilität fördert (z. B. kreative Problemlösungen), aber die Integration im Sinne einer Konsensfindung behindert. Ein ähnliches Spannungsverhältnis besteht zwischen Freiheit (Flexibilität) und Solidarität (Integration).

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