Letzter Weckruf für Europa. Helmut Brandstätter

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Letzter Weckruf für Europa - Helmut Brandstätter страница 5

Letzter Weckruf für Europa - Helmut Brandstätter

Скачать книгу

Männern“

      Ja, es geht – fast – nur um männliche Politiker. Wenn man von Wien in einige Staaten des Balkans blickt, dann entdecken wir Parallelen. Und es stellt sich immer stärker die Frage, was heute Menschen dazu bewegt, in die Politik zu gehen. In der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg war das klar: Männer wie Adenauer oder De Gaulle wussten, dass ein neuerlicher Krieg den Kontinent und ihre beiden Länder endgültig zerstören würde. In Österreich hatten Leopold Figl oder der spätere ÖGB-Chef und Innenminister Franz Olah erlebt, wohin Hass führte. Im Konzentrationslager Dachau hatten sie Zeit, darüber zu reden. Das änderte nichts daran, dass sie einen klaren Kompass für ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen hatten und, ihrem inneren Kompass folgend, nach dem Krieg mit vielen anderen eine erfolgreiche Demokratie mit einem funktionierenden Rechtsstaat aufbauten.

      Nun sind die Ausgangslagen am Balkan und in Österreich grundsätzlich verschieden, haben aber ähnliche politische Player hervorgebracht.

      In Österreich ist mit Sebastian Kurz und seinem ihm ergebenen Umfeld, bestehend überwiegend aus jungen Frauen und Männern, eine ideologie- und ideenbefreite Generation angetreten, für die ein politisches Projekt lediglich die Funktion hat, eine Botschaft zu produzieren – und diese hat nur einen Zweck: Sie soll den Anführer in das bestmögliche Licht zu rücken. So lud der junge Kurz zum „24-Stunden-Verkehr“ mit der U-Bahn ein, weil das lässig klingt. Vor dem EU-Gipfel im Juli warnte er vor einer EU als „Schuldenunion“, um bestehende Ressentiments gegen Europa zu mobilisieren. Die ÖVP setzt eben auf die versprengten FPÖ-Wähler.

      Fazit: Weder war in Wien ein verkehrspolitisches Konzept zu erkennen, noch zeigte die ehemalige Europapartei ÖVP bisher eine Überzeugung oder gar Ideen, wie die Institutionen der EU zum Vorteil aller besser funktionieren könnte. Das Foto von heute und die Schlagzeile von morgen sind das ganze Programm. Als Integrationsstaatssekretär ließ sich Kurz gerne beim Fastenbrechen mit Muslimen fotografieren, es schien ihm opportun. Als später viele Flüchtlinge kamen, bot das „Schließen der Balkanroute“ eine publicity-trächtige Schlagzeile. Das Prinzip ist dasselbe geblieben, aber jetzt geht es um etwas: um unsere Zukunft in Europa, um Frieden, Freiheit und Wohlstand.

      Filip Radunović, österreichischer Politologe mit montenegrinischen Wurzeln und großer Analysefähigkeit, denkt auch an Österreich, wenn er vom Balkan und der Gemeinsamkeit der Erben Titos spricht: „Der montenegrinische Ministerpräsident Ðukanović, der serbische Präsident Vučić, der albanische Regierungschef Rama und andere haben die Fähigkeit, sich durch mehrere politische Metamorphosen immer dem politischen Momentum anzupassen. Sie haben noch die Ausläufer des Titoismus erlebt, dann aber ab den frühen 1990er Jahren den Zeitgeist aufgenommen, der ja zunächst frei von Werten war. Da war und ist absolute Loyalität wichtig, das beobachte ich auch in Österreich, dazu kam ein dubioses Verständnis von Rechtsstaat und eine Art ‚Orwellismus‘. Damit meine ich, dass diese Politiker die Sprache verwenden, um zu verschleiern. Vor allem der serbische Präsident Milošević konnte überzeugt Dinge formulieren, wenn er deren Gegenteil meinte.“ Wollen diese Politiker in den Balkanstaaten ihre Länder überhaupt in die EU führen, wohl wissend, dass sie Macht abbauen und Rechtsstaatlichkeit aufbauen müssten? Darum wird es in den Kapiteln Balkan und Kandidaten (ab S. 145) gehen, aber sicher ist, dass politisches Personal mit klaren Überzeugungen und historischem Bewusstsein seltener wird, in der EU und außerhalb. Zum Zusammenhalt trägt das nichts bei.

      Europäische Identität als Ergebnis unserer Vielfalt

      Die Europäische Union war bereits vor der Bedrohung durch das Corona-Virus im Begriff, langsam zu zerbröseln. Das haben viele gemerkt und wurden nicht gehört, andere haben diesen Prozess bewusst beschleunigt. Jetzt müssen die Regierungen und die Bürger, die es sich in der Europäischen Union recht gemütlich eingerichtet haben, endlich aufwachen, jetzt geht es darum, den Verfallsprozess zu stoppen – oder sich der Konsequenzen einer zerstörten Union bewusst zu werden.

      Es gab natürlich positive Beispiele während der Corona-Krise: die Krankenhäuser, die Patienten aus anderen Staaten aufgenommen haben, die Kooperation der Wissenschaftler, die an Therapie und Impfung forschten, auch die zu Beginn recht schnellen Absprachen der Finanzminister für die erste gemeinsame Finanzierung der Folgen der Krise. Aber das starke Gefühl, dass alle Staaten diese riesige Herausforderung gemeinsam annehmen würden, die gab es im Sommer 2020 nur vereinzelt in Europa. Sonst hätten ja nicht manche Politiker durchaus in guter Absicht, aber etwas zu laut betonen müssen, dass die EU aus dieser Krise gestärkt hervorgehen würde.

      Neben zahlreichen Fakten wird es in diesem Buch auch um Emotionen gehen, weil diese in unserer Social-Media-Bilderwelt immer wichtiger werden und von der offiziellen Politik der EU-Kommission ohnehin sträflich vernachlässigt werden: Wer bin ich? Ein Österreicher? Ein Wiener? Ein Europäer? Oder einfach ein Mensch, der ein Leben lang die Vielfalt Europas mit sehr viel Freude in sich aufgenommen hat? Was spüre ich, wenn ich die österreichische Bundeshymne höre und die rot-weiß-rote Fahne sehe? Mit welchen Gefühlen höre ich die Europahymne? Muss es ein Widerspruch sein, Österreichs große Söhne und Töchter zu besingen und gleichzeitig zu jubeln, dass alle Menschen Brüder werden, wie es nach Friedrich Schillers Text in Beethovens Europahymne heißt? Auch die Komponisten und Autoren der beiden Hymnen bilden mehr europäische als nationale Identität ab: Paula von Preradović war die Tochter eines kroatischen Dichters und k.u.k-Offiziers, Wolfgang Amadeus Mozart setzte in seiner Arbeit europäische Geistesgeschichte in geniale Melodien um, der in Marbach am Neckar geborene Friedrich Schiller war der deutsche Dichter der Freiheit und bekam 1792 auch die französische Ehrenbürgerschaft verliehen, und der „Wiener“ Ludwig van Beethoven aus dem rheinischen Bonn schrieb mit Fidelio eine große Freiheitsoper. Auch heute noch brauchbar ist sein Zitat über das richtige Leben: „Wohltuen, wo man kann; Freiheit über alles lieben; Wahrheit nie – auch sogar am Throne nicht – verleugnen.“

      Es ist wunderbar, in einer vielfältigen Landschaft leben zu dürfen und Teil einer historisch oft mühsam gewachsenen Gesellschaft zu sein, die einen weltweit einmaligen Reichtum an Sprachen, Erfindungen und kulturellen Leistungen hervorgebracht hat und die sich ihrer schwierigen Vergangenheit stellt. Vor allem aber: Wir sind Teil einer Gemeinschaft, die sich weiterentwickelt hat, die aus der Geschichte gelernt hat, die auf hier entstandenen Menschenrechten und Werten beruht, die zumindest theoretisch überall auf der Welt anerkannt werden. Als europäische Werte und als Teil unserer europäischen Geschichte.

      Es gibt die vielbeschworene europäische Identität bereits. Die 75 Jahre von Frieden, Freiheit und Wohlstand im Westen, kombiniert mit dem erfolgreichen Kampf mittel- und osteuropäischer Völker um ihre Freiheit von den kommunistischen Regimen vor über 30 Jahren ist eine einmalige Erfolgsgeschichte. Die Kriege am Balkan haben dort auf grausame Weise verdeckte Konflikte offengelegt, aber die Staaten arbeiten zum Teil recht erfolgreich am Aufarbeiten ihrer komplizierten Geschichte, die zum Teil auch unsere in Österreich ist. Wir müssen dazu stehen, dass sich die gemeinsame europäische Identität aus vielen Konflikten entwickelt hat, dann wird unser Zusammenleben ganz selbstverständlich werden. Immer mehr Menschen spüren, was diesen Kontinent ausmacht und dass wir trotz aller Unterschiede viel Gemeinsames teilen. Genau diese Vielfalt macht die europäische Identität aus, und deshalb ist sie kein Widerspruch zu einer nationalen Identität.

      Und jetzt noch die Gretchenfrage: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“, heißt es in Goethes Faust. Bemüht wird dann oft die ebenso beschönigende wie unrichtige Floskel vom christlichjüdischen Erbe. Nun, dieses gibt es höchstens in dem Sinn, dass das Christentum zum Teil auf die Schriften des Judentums aufbaut. Sonst ist es das Christentum, das den Kontinent und die Menschen seit der konstantinischen Wende im Jahr 313 und der darauffolgenden Ernennung zur Staatsreligion des Römischen Reiches im Jahr 380 bestimmte.

Скачать книгу