Die Revolution der Städte. Henri Lefebvre
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2 Lefebvre wandte sich Ende der 1920er Jahre dem Marxismus zu und war lange Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. 1958 wurde er wegen »Revisionismus« aus der Partei ausgeschlossen.
3 Le droit à la ville (1968); Du rural à l’urbain (1970); La révolution urbaine (1970); La pensée marxiste et la ville (1972); Espace et politique (1973); La production de l’espace (1974).
4 Die deutsche Übersetzung des Titels La révolution urbaine mit »Die Revolution der Städte« ist deshalb irreführend. Entsprechend bedeutet der Begriff société urbaine nicht »verstädterte Gesellschaft«, sondern »städtische« bzw. »urbane« Gesellschaft (Schmid 2005, S. 114).
5 In der deutschen Übersetzung wird das französische global schlicht übernommen. Es bedeutet aber eigentlich »ein Ganzes ausmachend«.
6 Lefebvre bezieht sich dabei auf einen existentialphilosophischen Begriff von Martin Heidegger. In Das Darmstädter Gespräch 1951 (1991 [1952]) über »Mensch und Raum« definiert dieser »Wohnen« als »auf der Erde sein«, »Aufenthalt bei den Dingen“. Aufgrund seiner »Heimatlosigkeit« müsse der Mensch das Wesen des Wohnens immer wieder suchen.
7 Die deutsche Übersetzung (»Lebensraum« versus »Wohnraum«) sorgt für einige Verwirrung. Lefebvre greift hier einen Begriff der Chicago School auf, die in Anlehnung an biologische Episteme die Stadt als sozialökologisches System auffasst. Bezeichnete das Habitat ursprünglich ein Milieu (Lebensraum), so gilt es nun als Synonym für Wohnbedingungen (z. B. l’habitat pavillonaire, »Eigenheimvorstadt«). Habiter steht hingegen für eine aktive und kreative Tätigkeit des Menschen (vgl. Guelf 2010, S. 96 f.; Meyer 2007, S. 263).
8 Das »Erlebte« (vécu) steht bei Lefebvre für die alltäglich gelebten und erlittenen Raumnutzungen der Bewohnerinnen und Bewohner.
9 Im Original lautet der letzte Halbsatz: »[…] voilà ce qui fait l’urbain.« (Lefebvre 1979 [1970], S 157)
10 So wurde beispielsweise 1971 Lefebvres Buch Der dialektische Materialismus vom Suhrkamp Verlag in der 5. Auflage (29.–36. Tausend) herausgebracht.
11 In den siebziger Jahren setzten sich lediglich die kritischen Stadtforscher David Harvey (1973) und Manuel Castells (1973) eingehend mit La révolution urbaine auseinander. Für den deutschsprachigen Raum ist auf die Kulturwissenschaftlerin Gerburg Treusch-Dieter (1976) zu verweisen.
12 Siehe dazu im deutschsprachigen Raum Schmid (2005) und Guelf (2010).
I Von der Stadt zur verstädterten Gesellschaft
Allem voran sei eine Hypothese gesetzt: die von der vollständigen Verstädterung der Gesellschaft. Wir werden für diese Hypothese Beweise erbringen und sie mit Fakten untermauern müssen. Unsere Hypothese enthält eine Definition. Wir wollen also die Gesellschaft eine »verstädterte« nennen, die das Ergebnis einer vollständigen – heute potentiellen, morgen tatsächlichen – Verstädterung sein wird. Eine solche Definition setzt der Vieldeutigkeit der Begriffe ein Ende. Denn bislang verstand man alles mögliche unter einer »verstädterten Gesellschaft«: den griechischen Stadtstaat, die orientalische oder die mittelalterliche Stadt, die Handels- oder die Industriestadt, Kleinstadt oder Großstadt. Damit entsteht ein Zustand extremer Verwirrung, bei dem man die Gesellschaftsbeziehungen außer acht läßt oder ausklammert, aus denen der jeweilige Stadttypus entstanden ist. Man vergleicht »verstädterte Gesellschaften« miteinander, die in nichts vergleichbar sind, um die jeweilige Ideologie zu belegen: den Organizismus (jede »verstädterte Gesellschaft« wird für sich genommen und gilt als organisches »Ganzes«), die Kontinuitätslehre (die eine historische Kontinuität bzw. ein ständiges Vorhandensein der »verstädterten Gesellschaft« postuliert), den Evolutionismus (Zeitabschnitte, die Gesellschaftsbeziehungen verwischen bzw. sie verschwinden machen). Wir wollen uns den Ausdruck »verstädterte Gesellschaft« für eine Gesellschaft vorbehalten, die aus der Industrialisierung entsteht. Unter »verstädterter Gesellschaft« verstehen wir also eine Gesellschaft, die aus eben diesem Prozeß hervorgegangen ist und die Agrarproduktion beherrscht und aufbraucht. Diese verstädterte Gesellschaft entsteht erst nach Beendigung eines Prozesses, in dessen Verlauf die alten Stadtformen zerfallen, abgelöst von zusammenhanglosen Veränderungen. Ein wesentlicher Aspekt des theoretischen Problems besteht darin, daß Diskontinuitäten und Kontinuitäten miteinander in Beziehung gesetzt werden und umgekehrt. Denn wie könnte eine absolute Zusammenhanglosigkeit bestehen, ohne daß unter der Oberfläche Zusammenhänge vorhanden wären, ohne Gemeinsamkeiten, ohne daß ein inhärenter Prozeß abliefe? Und wie gäbe es umgekehrt eine Kontinuität ohne Krisen, ohne das Auftauchen neuer Elemente und neuer Beziehungen?
Die einzelnen Wissenschaftszweige (die Soziologie, die politische Ökonomie, die Geschichte, die Humangeographie usw.) haben zahlreiche Benennungen vorgeschlagen, die »unsere« Gesellschaft mit ihren Realitäten, ihren unter der Oberfläche vorhandenen Strömungen, ihren Fakten und Möglichkeiten charakterisieren sollten. Man hat von der Industriegesellschaft und in jüngerer Zeit von der nachindustriellen Gesellschaft gesprochen, von der Gesellschaft des technischen Zeitalters, der Wohlstandsgesellschaft, der Freizeitgesellschaft, der Konsumgesellschaft usw. Jede solche Benennung enthält einen Teil der empirischen oder begrifflichen Wahrheit, der Rest ist Übertreibung und Extrapolierung. Um die Gesellschaft der nachindustriellen Zeit, also die aus der Industrialisierung hervorgegangene und ihr folgende zu benennen, wird hier der Begriff verstädterte Gesellschaft vorgeschlagen, womit mehr eine Tendenz, eine Richtung, eine Virtualität und weniger ein fait accompli zum Ausdruck gebracht werden sollen. Infolgedessen bleibt die kritische Darstellung zeitgenössischer Realitäten, etwa die Analyse der »bürokratisch gelenkten Konsumgesellschaft«, davon völlig unberührt.
Es handelt sich also um eine theoretische Hypothese, die zu formulieren und als Ausgangsbasis zu benutzen das wissenschaftliche Denken berechtigt ist. Dieses Verfahren ist in der Wissenschaft nicht nur gang und gäbe, sondern sogar notwendig. Ohne theoretische Hypothesen keine Wissenschaft. Schon jetzt muß darauf hingewiesen werden, daß unsere Hypothese, die sogenannten »Gesellschaftswissenschaften« betreffend, eng mit einem epistemologischen und methodologischen Begriff verbunden ist. Erkenntnis muß nicht unbedingt Kopie oder Abbild, Vortäuschung oder Nachbildung eines schon jetzt tatsächlich vorhandenen Objektes sein. Umgekehrt wird sie ihr Objekt nicht unbedingt im Namen einer der Erkenntnis vorausgehenden Theorie aufbauen – einer Theorie über das Objekt oder die »Modelle«. Für uns hier ist das Objekt in der Hypothese enthalten, die Hypothese befaßt sich mit dem Objekt. Nun befindet sich dieses »Objekt« zwar jenseits des (empirisch) Feststellbaren, dennoch ist es nicht fiktiv. Wir setzen ein virtuelles Objekt ein, die verstädterte Gesellschaft, ein mögliches Objekt also, dessen Entstehen und Wachstum, in Verbindung mit einem Prozeß und einer Praxis (einer Aktion), wir darlegen wollen.
Freilich muß die Gültigkeit dieser Hypothese bewiesen werden, wir werden nicht zögern, immer wieder auf sie hinzuweisen