Die Dame mit der bemalten Hand. Christine Wunnicke

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Die Dame mit der bemalten Hand - Christine Wunnicke

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und seinen Büchern, doch noch immer drängten mehr Leute hinein. Letzthin hatte ein Kandidat der Jurisprudenz die Fassade erklommen, um vielleicht durchs Fenster einen Blick auf Michaelis zu erhaschen, wie er als Jakob mit dem Engel rang oder als Potiphars Weib mit Joseph; er war indes abgestürzt und hatte sich den Arm gebrochen.

      »Der Gelehrte, ich, wir, hier, daheim in unseren Stuben«, fuhr Michaelis fort, »wir lesen aus unseren Büchern und Gedanken ab, was in den Ländern des Orients zu finden sein wird und wie es uns hilft, die heilige Schrift zu begreifen. Wir stellen nach richtigem Studium die richtigen Fragen. Wir lesen die Bibel und den Koran, sie mit dem rechten, ihn mit dem linken Auge, und stellen im Gehirn die Verbindung her. Es ist nämlich Hebräisch und Arabisch nur ein verschiedener Dialekt ein und derselben Sprache, nicht mal völlig so weit entfernt als Obersächsisch und Niedersächsisch, und ich leiere das her wie eine Repetieruhr, bis mir das Schlagwerk erlahmt, und Sie halten immer noch Maulaffen feil. Arabien ist unsere Wiege! Dort spielt sie, die heilige Schrift! Dort fügt sich der Sinn zusammen und Klarheit kehrt ein im Glaubensbegriff. Das Vorurteil ist immer verderblich. Wen Furcht anrührt, dass wir nach Mekka pilgern, um Provision für die Bibelkunde zu suchen – erst in spiritu wir, will ich sagen, und dann, in corpore, unsere Reisenden –, der möge sich in die propädeutische Klippschule scheren! Die Gottesgelehrsamkeit ist eine exakte Wissenschaft. Beklommenheit lähmt uns und Kinderfrömmigkeit fruchtet hier gar nichts, und auch nicht Ihr stupides Gesicht, Sie!«

      Er stach mit der Reitgerte in Richtung der ersten Reihe. Zuhörer fuhren zurück. Er stach nicht nur in die Luft. Zuweilen schlug er auch zu.

      »Inna scharra ad-dawabbi ainda Allahi as-summu al-bukmu al-ladhina la yaqiluna,« rief Michaelis, »und siehe, die schlimmste Bestie vor Gott ist die taube und blöde, der alle Vernunft fehlt, Sure acht, zweiundzwanzig!«

      Er ließ die Gerte zweimal laut aufs Katheder klatschen, trank sein Glas Wein aus, lockerte die Halsbinde und fuhr fort:

      »Der Reisende, den wir in den Orient schicken, ist unser Rennpferd. Der Springer auf unserem Schachbrett. Unser Werkzeug, unsere Angel, unsere Linse. Unser Fernrohr ist er! Ich will nicht sagen ›nur‹. Es ist ehrenvoll, das Fernrohr eines gut Denkenden, eines genau Studierenden, eines Göttinger Galileo zu sein. Nur hat es schön am Auge zu bleiben. Sie wollen, meine Herren, kein Teleskop, das eigenmächtig über den Himmel schwirrt und weiß Gott nicht was anstellt und alles verzettelt. Das ist kein fliegender Teppich! Das ist nicht das Märchenland! Zumal die Reise sich nicht nur im Raum zuträgt, sondern gleichsam auch in der Zeit. Wer sollte sich hier nicht verirren, wenn der Zügel fehlt, der ihn an Vernunft und Heimat und an die Bibliotheken und an meine Wenigkeit bindet? Die empirische Exegetik macht sich den glücklichen Umstand zu Nutze, dass die Morgenländer sich nicht mit derselben Eile und demselben Fleiß wie wir fortentwickelt haben, sondern sich gleichsam noch heute im biblischen Zustand, im Stande der Unschuld befinden. Dem Orient fehlt es an Hurtigkeit. Auch wurde er nicht von anderen Völkern unter das Joch gebracht und blieb also immer sich selber treu. Wer ins Morgenland fährt, legt nicht nur Meilen über Wasser und Land zurück. Er reist auch rückwärts durch die Millennia. Da landet er denn und klopft bei Moses und sagt, ›Abba Vater, erzähl mir deine Geschichten bitte noch einmal und mit ein wenig mehr Detail. Wie sahen die Kinnim aus, welche Ägypten plagten, wie es geschrieben steht in Exodus 8? Waren sie Mücken oder Schnaken oder eher doch Bremsen oder gar die argen Schlupfwespen, wie sie Hasselquist auf seiner Reise nach Palästina fand?‹«

      Michaelis verstummte. Er blickte erwartungsvoll in den Saal. Niemand wagte zu lachen. Michaelis lachte selbst, ein kurzes, heftiges Lachen, trank, zerrte die Halsbinde vom Hals, warf sie auf den Koran und fuhr fort:

      »Es handelt sich nicht nur um Mücken. Es handelt sich nicht nur um Naturalien. Es sind nicht nur Steine, Tiere, Pflanzen, Wetter, Gezeiten und Geographie, die wir in Arabien erforschen müssen, sondern zuvörderst das Menschenleben. Worauf sonst ist die Bibel errichtet? Wir wollen von den Sprachen hören! Auch von denen des gemeinen Volks! Von Sitten und Gebräuchen! Was man mit seinen Toten tut! Von den Weibern, wie viele man hat und wie sie behandelt werden! Es genügt nicht zu eruieren, welcher Linnäische Frosch und Heuschreck es nun im Einzelnen war, der das Land Ägypten plagte, wir wollen auch wissen, welchen Wert oder Unwert man ihm im Morgenland zumisst, heute und damals, was gänzlich dasselbe ist! Schlägt man ihn tot? Hat man ihn lieb? Ist er unrein? Verzehrt man ihn? Hält man ihn in Käfigen? Betet man ihn an? Gibt man ihn zum Brautgeschenk? Trägt man ihn, mumifiziert, als Schmuck um den Hals? Das, meine Herren, sind wichtige Fragen. Sie gehören zusammengetragen und niedergeschrieben und in die Hand dessen, der reist, und er hat sie täglich zu memorieren und seine Wege und seinen Blick danach auszurichten!«

      »Und was«, rief einer, sehr leise, »was ist mit den Muselmanen?«

      Es war ein Medizinstudent. Er war zum ersten Mal hier. Er plante nicht wiederzukommen. Er saß auch nicht in der ersten Reihe. Er konnte es wagen, Professor Michaelis etwas hineinzurufen.

      »Was soll mit den Muselmanen sein?«, fragte Michaelis verwundert.

      »Sie leben in dieser Gegend?«, bot der Medizinstudent an.

      »Ja, Gott sei es gedankt!«, rief Michaelis. »Es wäre schlimm, wenn die Hottentotten dort wohnten oder die Menschenfresser oder etwa Sie mit Ihrem dünnen Stimmchen! Muselmanen sind vernünftige Leute. Gesunde Urteilskraft spricht aus ihrer Geschichte und viel Verstand aus ihrer falschen Religion. Sie sind unsere Zeugen! ›Abu Vater‹, sagen Sie zum Muselmanen, ›was hat Moses damals erlebt?‹«

      Michaelis starrte in Richtung des Medizinstudenten, bis dieser »danke ergebenst« zirpte.

      »Facta!«, schrie Michaelis. »Beglaubigte, historische Facta! Die sind nicht die Feinde der Pietät und nicht der Dogmatik und auch nicht der Revelation! Wir wollen nicht den ängstlichen Glauben, der wunderlich am Buchstaben klammert! Dagegen ziehen wir aus! Und nicht nur dauernd nach Palästina! Palästina ist zu Tode erforscht! Dort sitzt schon ein Christ unter jedem Kamel!«

      Er sprach nun seit fast drei Stunden. Es war bald Mitternacht. Das Licht blakte, die Luft war schlecht. Nebenan in der Studierstube schnarchte einer, vielleicht der kolossale Diener. Irgendwo schrien ein, zwei Kinder der Familie Michaelis. Seit die Franzosen in der Stadt lagen, las Michaelis entweder spät nachts oder sehr früh am Morgen, da er sich sonst beobachtet fühlte. Er wiederholte: »Facta, Facta«, stöhnte, trank und ließ seinen Blick über die Menge schweifen.

      »Da ist es ja!«, rief er. »Unser Fernrohr! Da hinten! Ich hatte es gar nicht gesehen! Kommen Sie doch einmal hervor, Herr Niebuhr! Was drücken Sie sich in die Ecke?«

      Alle drehten die Köpfe. Ganz hinten, zum Treppenhaus zu, wo es längst keine Stühle mehr gab, stand ein Student und blickte zu Boden. Es war ein strammer Bursche in einem schlichten Rock und einer billigen Flachsperücke, der keinerlei Anstalten machte, hervorzukommen.

      »Unser Mathematikus Niebuhr aus dem Bremischen«, schnurrte Michaelis. »Da steht er und schämt sich. Wofür brauchen wir die Mathesis, wenn wir die Realien und Verbalien der Bibel erforschen? Sie?« Wieder zielte er mit der Gerte in Richtung der ersten Reihe, und wieder wartete er keine Antwort ab.

      »Was wollen Sie hier, Niebuhr?«, fragte er über zweihundert Köpfe hinweg. »Was hören Sie die Theologie? Wollen Sie Pfarrer werden? Haben Sie nichts Wichtigeres zu tun? Warum sind Sie nicht im Turm bei Mayer und üben mit dem Hadley-Oktanten?«

      Eine ungemütliche Stille hatte sich ausgebreitet. Man kannte das schon. Man fragte sich, warum Carsten Niebuhr, einer der designierten Reisenden in die arabischen Länder, immer wieder in Michaelis’ Vorlesung kam, wenn er doch wissen musste, dass Michaelis ihn nur schikanierte.

      Niebuhr hatte sich wortlos verbeugt und strebte zum rückwärtigen Ausgang.

      »Bleiben

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