Die Dame mit der bemalten Hand. Christine Wunnicke
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Vollends begriffen hatte er immer noch nicht, wozu die Gottesgelehrsamkeit die Mathesis brauchte. Das moderne Christentum nach Göttingischer Weise, so schien es, bediente sich eines Hadley-Oktanten und eines Newtonschen Tubus, um den Glauben in Ordnung zu bringen. Michaelis konnte dies gewiss erklären, doch für die großen Kollegia in seinem Haus waren solche Grundsatzfragen viel zu schlicht. Immer hoffte Niebuhr darauf, dass Michaelis den theologischen Urgrund der arabischen Reise und den Nutzen aller losgeschickten Personen bespräche, doch immer wurde er enttäuscht, immer gab es nur böse Worte, Heuschrecken, Pfriemenkraut und den Koran. Niebuhr hatte Gott um Rat und Lenkung gebeten, weil Michaelis weder riet noch lenkte, doch Rat und Lenkung blieb überall aus. Mehr als ein wenig von dem, was Michaelis die Kinderfrömmigkeit schimpfte, fand Niebuhr in seinem Herzen nicht. So warf er sich denn auf Mathesis, Sternkunde und Kartographie. Gott Vater würde seine Hand über ihn halten. Und Michaelis wäre begeistert. Eines Tages, wenn sie sicher heimgekehrt wären, würde Professor Michaelis vollends begeistert sein, was sie im Morgenland alles gefunden hätten. Diesem Tag sah Niebuhr freudig entgegen.
Nun konnte er das Observatorium sehen. Man hatte es erst vor wenigen Jahren auf einen der südlichen Stadttürme gebaut, wie ein eigenes kleines Haus oder Kirchlein auf einem runden Podest, hoch oben über der Stadt. Fast jeden Tag ging das Gerücht, die Franzosen hätten es geschlossen, beschlagnahmt, gar ein Pulvermagazin dort hineinverlegt, doch das glaubte Niebuhr nicht. Schon zu oft war es erzählt worden, und jedes Mal saß Professor Mayer dann dort oben ganz unbehelligt und ging seiner Arbeit nach.
Auch den Krieg hatte Niebuhr aussortiert, genau wie rethem und ratam. Im glücklichen Arabien würde der Krieg nicht sein. Vielleicht in Ostindien. Dort war der Krieg ebenfalls hingedrungen, wie in der Frankfurter Zeitung zu lesen war. Doch nach Ostindien wollte man nicht. Dort hatte sich Biblisches nie ereignet. Dort waren keine Geschenke für Professor Michaelis zu holen.
»Ansa, tansa, tansayna, yansa, tansa«, murmelte Niebuhr. Ob das glückliche Arabien wirklich so glücklich war? Bald sähe man es mit eigenen Augen und wahrscheinlich interessierte es keinen, nicht Michaelis, nicht die dänische Krone, die dessen exegetische Expedition finanzierte, denn die Frage, wie glücklich Arabien war, fiel gewiss unter ›läppischer Dreck‹.
Professor Mayer hatte schon auf Niebuhr gewartet. Mit einem kleinen holländischen Schiffsfernrohr hatte er aus dem Nordfenster gespäht, wann sein Lieblingsstudent denn endlich erschiene. Er freute sich jede Nacht auf ihn, wie er von Norden daherkam, mit verschlossener Miene und schnellem, soldatischem Schritt, auf den Lippen arabische Wörter. Er lief die Treppe hinunter, um ihn zu begrüßen.
Mayer schrieb Mondtafeln. Darauf basierte sein Lebenswerk. Das dauernde Schreiben und Immerweiterschreiben von Mondtafeln, so nützlich es für Theorie und Praxis der Wissenschaft war, erschöpfte die Augen und war auch für die Seele nicht nahrhaft. Mayers Seele, die eine weiche war, zehrte noch immer vom Halleyschen Kometen. Dieser war vor wenigen Wochen durch das Perihel gegangen, genau wie es Halley vorhergesagt hatte. Der schöne Schwanzstern, dessen Nucleus, Dunstkreis und bläulich strahlender Schweif hatten Mayer so angerührt, dass er kaum etwas dazu hatte zu Papier bringen können. Er hatte seinen kleinen Sohn aus dem Bett gezerrt, ins Observatorium getragen, dort auf den Schoß genommen und seine Hände um den vierschuhigen Newtonschen Tubus gelegt, auf dass er den Kometen dadurch betrachten und sich dies für sein Leben merken konnte. Das vom Schlaf zerzauste Haar seines Sohnes vor Augen und ohne den Kometen selbst noch zu sehen, hatte Professor Mayer einige Tränen vergossen und sich nicht dafür geschämt. Danach hatte er die Chose trockenen Auges mit Passageninstrument und Mauerquadrant vermessen. Eine gewisse Empfindsamkeit, fand Mayer, sei jedem Astronomen gestattet. Schließlich blickte er nachtaus, nachtein von Amts wegen ins Ewig-Unendliche.
»Waren Sie schon wieder bei Michaelis?«, fragte Mayer und schüttelte Niebuhrs Hand. »Sie sind ganz verzweifelt. Warum tun Sie sich das an?«
»Verzweifelt?« Niebuhr blickte verdutzt an sich hinunter, als sei Verzweiflung etwas, das auf dem Rock klebt wie Schmutz. »Von Haven geht doch auch hin.«
»Von Haven ist das Hündchen vom Michaelis. Er sitzt beim Katheder und wedelt.« Professor Mayer warf Niebuhr einen langen Blick zu, in der Hoffnung, dass dieser lächeln oder sich empören möge. Doch Niebuhr lächelte nicht und empörte sich nicht. Er runzelte die Stirn, als versuche er sich den Philologus von Haven beim Wedeln vor einem Katheder vorzustellen, leibhaftig und nicht metaphorisch.
Mayer nahm Niebuhr mit nach oben. Er setzte ihn an den Tisch neben dem mittelgroßen Tubus und ließ ihn die heutigen Zahlen ins Reine schreiben. Das tat ihm gut, wusste Mayer. Niebuhr schrieb gerne Zahlen. Auch zeichnete er gerne etwas ab. Er war sich nie zu schade für Kopistendienste. Oft schien es Mayer, als kopierte er lieber, als dass er alles bedachte. Dabei dachte er gut. Er war gewitzt. Man musste ihn nur ermutigen. Er legte Niebuhr die Hand auf die Schulter. »Warum hasst er Sie so, Michaelis? Was haben Sie ihm getan?«
»Wenn ich das wüsste.« Niebuhr kopierte Fixsternparallelen. »Vielleicht ist er an meinem Arabisch verzweifelt. Ich bin an dem Luckmann verzweifelt.« Er richtete das mittelgroße Teleskop auf den Jupiter, der im Süden beim Antares stand. »Das brachte ihn wahrscheinlich auf.«
»Wer ist der Luckmann?«
»Ein alter Araber. Der Fabeln erzählt.« Niebuhr studierte durch den Tubus die Monde. »Er ist bibelalt, soweit ich verstanden haben. Er sagt in bibelaltem Arabisch, ›Esel schreien so hässlich‹ et cetera, irgendwo im Koran. An dem bin ich verzweifelt. Michaelis ritt auf dem Luckmann herum und dann verriss er den Muhammad wie ein Rezensent von der Zeitung. Dessen Schreibstil und Prosodie, und dass er klinge wie der Magister Lobesan mit seinen Knittelversen und zusammengekramten Phrasen. Darüber hat er ewig geschimpft. Ich dachte, das sei wohl kein gutes Gespräch, wenn ich in Arabien sagte, euer heiliges Buch ist voll der schönsten Vernunft, aber welch schlimme Dichtung. Das wollte ich mir nicht merken. Und wozu mir der Luckmann taugt, das wusste ich eben auch nicht. So redet doch keiner. Das hat doch keinen Nutzen. Da ging ich und lernte aus Büchern weiter.«
»Ich dachte, Michaelis erteilte Ihnen Privatlektionen?«
»Ja, gewiss.«
»Sie sagten zu Michaelis, ›ich sehe keinen Nutzen in Ihrem Privatunterricht, Herr Professor, ich lerne lieber aus Büchern‹?«
»Ich will doch seine Zeit nicht verschwenden.« Liebevoll skizzierte Niebuhr die Positionen von Europa und Kallisto. Die übrigen Monde waren bedeckt.
Mayer begann zu lachen. Niebuhr schaute ihn verwundert an. Mayer wollte dem jungen Niebuhr die Welt erklären, doch stattdessen erklärte er ihm, dass man so nah am Okular nicht reden soll, weil der Atemhauch sonst alles befeuchtet.
Als er wieder Zahlen schrieb, fragte ihn Professor Mayer noch einmal, warum er sich dauernd von Michaelis schikanieren ließ.
Niebuhr blickte auf. Er hatte die Perücke abgenommen. Seine Haare standen zu Berge und an der Stirn war noch der Abdruck, wo die Perücke gewesen war. Mayer fragte sich, wann er eigentlich schlief.
»Ich mag Michaelis«, sagte Niebuhr langsam. »Er weiß so viel. Ich begreife davon so wenig. Er weiß von allem etwas, und von allen Sprachen sehr viel. Er übersetzt die Bibel neu. Das macht er im Kopf, er schreit es zu seinem Famulus hin, der alles niederschreibt,