C -Die vielen Leben des Kohlenstoffs. Dag Olav Hessen
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Und apropos »falsches« C – Synthetischen Gummi Page 62kennen wir auch in Form von Weingummi, Gummibärchen, sauren Apfelringen und anderen Süßigkeiten. Sie alle enthalten jede Menge Kohlenstoffchemie und Süßstoffe wie Glycerin (C3H8O3) oder Zuckeralkohole (die wohlgemerkt nicht betrunken machen, sondern höchstens einen Zuckerschock auslösen können) wie beispielsweise Sorbit (C6H14O6) und dessen Verwandte Mannit, Lactit, Xylit und andere. Ihre Struktur ähnelt der des gewöhnlichen Zuckers (C6H12O6), sie zeichnen sich jedoch durch eine intensivere Süße aus. Dabei haben sie denselben Energiegehalt wie gewöhnlicher Zucker. Süßstoffe wie Cyclamat und Aspartam (die beispielsweise in Limonade vorkommen) hingegen sind energieärmer als gewöhnlicher Zucker, aber ebenfalls um Größenordnungen süßer. Ob diese »süßen Früchte« der Kohlenstoffchemie wegen ihres synthetischen Charakters schädlicher als Zucker sind – darüber lässt sich streiten. Einen Michelin-Stern haben sie jedenfalls nicht verdient.
29Die Geschichte des Autos ist ein integrierter Bestandteil der neueren Geschichte des Kohlenstoffs, vor allem weil Autos zum Großteil für die Umwandlung fossilen Kohlenstoffs in CO2 verantwortlich sind, aber auch, weil die Automobilindustrie den Fortschritt der synthetischen Kohlenstoffchemie angekurbelt hat – hier sei nur an den Reifen zu denken. Die Geschichte des Autos wurde in unzähligen Werken wiedergegeben, beispielsweise hier: Glancey, J. (2013): The car. The history of the automobile. Carlton Books.
30Locke, I. (1995): The wheel and how it changed the world. Amazon.
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Plastic fantastic
Unsere Kultur basierte lange auf dem Kohlenstoff in Holz und Stein, bevor das Eisen die erste Stelle einnahm. Danach kam die Plastikgesellschaft. Plastik besteht wie Nylon, Gummi und viele andere Stoffe, die wir als Kunststoffe zusammenfassen, aus C-Polymeren. Dem Plastik sind in der Regel aber verschiedene Additive zugesetzt. Plastik war – als es mit Macht sowohl auf den industriellen als auch den Haushaltsmarkt drängte – ein Sinnbild des Fortschritts. Die alten, schweren Holzwerkzeuge wurden ausgemustert, denn mit Plastik war alles leichter. Seither dominiert das Plastik in einer Weise unseren Alltag, wie es selbst die visionärsten Polymerpioniere nicht erwartet hätten.
Schon 1908 wurde das gehärtete Plastikmaterial Bakelit entwickelt, benannt nach seinem Erfinder Leo Baekeland. In den 1930er Jahren bekam das Bakelit Konkurrenz durch andere synthetische Plastikarten wie Polyethylen, Polystyren, Polyvinylchlorid – und eben Nylon. Das alles war aber erst der Anfang: Das Plastik fand seinen Weg nicht nur in die Küchenschubladen aller Haushalte, sondern wurde fortan auch für Isolationsmaterial, Schläuche, Flaschen, Brillen, Möbel, Bodenbeläge, Spiele, Kleider und noch vieles mehr genutzt. Plastik war der Inbegriff der Modernität, der Beweis dafür, dass die Welt sich weiterentwickelte. Das Öl, das Plastik, ja die gesamte organische Chemie zeigten, wie der Mensch mit seinem Wissen den Erfindungsreichtum der Natur kopieren konnte, besonders, was die Verwendung von Kohlenstoff anging.
Die Begeisterung für diese Modernität flaute in den 1970er Jahren etwas ab, als bekannt wurde, dass diese Entwicklung auch eine Kehrseite hatte. Das Plastik geriet in Misskredit. Zuerst, weil es im Gegensatz zu den Rohstoffen der Natur etwas »Unechtes« symbolisierte. Der Page 64Holzlöffel in der Küchenschublade war etwas »Echtes«, der Plastiklöffel daneben nicht unecht, aber doch »künstlich«, sodass dem Plastikexemplar alsbald etwas Falsches anhaftete. Magne Myrmo ist als der letzte Weltmeister in die Annalen eingegangen, der noch auf Holzskiern unterwegs war. Während der WM 1974 in Falun gewann er Gold über 15 Kilometer Langlauf, mit einer Sekunde Vorsprung auf Gerhard Grimmer, der bereits mit Glasfaserskiern gelaufen war. Nach dieser WM konnte auf Holzskiern niemand mehr gewinnen. Trotzdem wurde lange und heiß darüber diskutiert, ob man Kunststoff-Ski überhaupt zulassen sollte. Inzwischen ist der Kunststoff aus dem Skisport überhaupt nicht mehr wegzudenken, sodass dieser Sport mehr als alle anderen den Übergang von den natürlichen Polymeren (wie Holz und Wolle) zu den synthetischen (Kunststoffski, Kohlefasersohlen und -stöcke, Kleidung aus Hightech-Kunstfaser, ganz zu schweigen vom Skiwachs) symbolisiert.
Der Begriff »natürlich« (wie die Natur) hat den gleichen Anspruch wie das Wort »echt«. Plastik ist als Kunststoff nicht sonderlich umweltfreundlich, der Hauptkritikpunkt ist aber das »Unechte«. Besitzer von Holzbooten betonen immer, dass ihre Boote eine Seele haben. Dabei ist gerade der Wald interessanterweise der Ausgangspunkt für immer mehr synthetische Polymere, Kohlenwasserstoffe und Plastikarten auf der Basis von Zellulose oder Lignin.
Plastik, insbesondere in Form von Plastiktüten, ist zum Symbol unserer Wegwerfgesellschaft geworden.31 Dabei Page 65wird auch Plastik von Bakterien, Pilzen und Sonnenlicht zersetzt, nur dass dieser Prozess extrem lange dauert und das Material nur unvollständig abgebaut wird. Öl kann viel schneller zersetzt werden, da es »natürlich« ist – es gibt genug Ökosysteme, in die auf natürliche Weise immer wieder Öl eingetragen wird, sodass dank der Evolution längst Bakterien entstanden sind, die diese Energiequelle auch nutzen können. Plastik hingegen ist harte Kost, besonders Hartplastik. Noch an der Nordküste Spitzbergens wird Plastikmüll angespült. Im Sommer 2014 war ich für ein Forschungsprojekt dort und musste am Strand durch farbenfrohen Kunststoff waten: Russische Ketchupflaschen, britische Plastikdosen, norwegische Plastiktüten waren neben den Resten von Seilen und Netzen nur ein Teil des ausgesuchten Sortiments. Die Trennung zwischen dem Echten und dem Künstlichen ist dabei gar nicht so einfach, denn das Öl ist ebenso natürlich, wie der Baum, aus dem es entsteht, und warum sollte sich das ändern, wenn man den Rohstoff raffiniert oder weiter veredelt? Trotzdem wirkt ein orangefarbener Plastikkanister an einem arktischen Strand immer fremder und weniger natürlich als ein angeschwemmter Baumstamm. Plastik ist einfach überall. Jedes Jahr werden zwischen 500 Milliarden und einer Billion Plastiktüten produziert (Stand 2014). Ein Teil davon wird glücklicherweise recycelt, aber noch immer landet der weitaus größere Teil auf Müllkippen oder in den Meeren. Als 1999 das Meer aus Plastik entdeckt wurde, das im Stillen Ozean eine Fläche größer als die Landfläche Norwegens einnimmt, begannen bei vielen die Alarmglocken zu läuten. Das Meer aus Plastik ist dabei gar nicht so einfach zu sehen, da es vorwiegend aus kleinen Plastikfragmenten besteht, was die Sache natürlich nicht besser macht. Nach einer Schätzung der Page 66Vereinten Nationen aus dem Jahr 2009 landen jedes Jahr etwa 6,4 Millionen Tonnen Abfall im Meer: aktuell treiben demzufolge etwa 100 Millionen Tonnen Müll in den Weltmeeren – der Großteil davon Plastik. Eine weitere Schätzung ergab 2015, dass die Küstenstaaten der Welt jedes Jahr 275 Millionen Tonnen Plastikmüll produzieren und dass zwischen 5 und 12 Millionen Tonnen davon im Meer landen.32 Auch wenn die Tüten mit der Zeit zerfallen, löst das nicht das Problem, jedenfalls nicht für die kommenden Generationen von Seevögeln, die das Mikroplastik entweder direkt oder über die Nahrungskette aufnehmen.
Als kleiner Junge war ich einmal auf der Vogelinsel Runde. Die Vogelschwärme boten vom Meer aus einen überwältigenden Anblick. Am besten erinnere ich mich aber an die Geräusche. An das Wahnsinnsorchester der Dreizehenmöwen, die zu Tausenden an der weißgesprenkelten Felswand brüteten. Ich war seither noch ein paar Mal auf der Insel, und jedes Mal hat mich das Leben, das ich dort vorfand, in seinen Bann gezogen. Kurz vor Ostern dieses Jahres war ich zuletzt auf Runde, auf einer Konferenz über die Zukunft unserer Meere und Meeresvögel. Wir fuhren auch da mit dem Schiff um die Insel herum, doch dieses Mal war es still. Kaum eine Dreizehenmöwe war zu sehen, ja, nicht einmal ein Tordalk. Wo sonst an die 5000 Sturmvögel brüteten, war jetzt kahler Fels, und die Skarveura, früher einmal die Heimat der weltweit größten Kolonie der Krähenscharbe, lag kalt und leer da. Silent spring auf dem Vogelfelsen.33 Noch