Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
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Der Priester verneigte sich; im Grunde freute er sich auf sein Bett. »Wie Ihr wollt, meine lieben Kinder«, sagte er salbungsvoll, kniete nieder, bekreuzigte sich, verrichtete sein Gebet, stand wieder auf und verließ das Zimmer mit sanften Schritten. »Sie war eine Heilige!« murmelte er.
Nun waren sie wieder allein, die Tote und ihre Kinder. Eine Wanduhr, die man nicht sah, unterbrach das Schweigen mit regelmäßigem Ticken, und durch das offene Fenster quoll der weiche Duft des Heus und der Wälder mit dem sehnsüchtigen Schimmer des Mondes herein. Alles war still; nur zitternde Unkenrufe vernahm man, und zuweilen das nächtliche Surren eines Insekts, das wie eine Kugel hereingeflogen kam und brummend an die Wand stieß. Unendlicher Frieden, himmlische Schwermut und schweigende Heiterkeit waren um diese Tote, sie schienen von ihr auszugehen und sich besänftigend auf die Natur ringsum zu legen.
Da schluchzte der Beamte, der noch immer auf den Knien lag und das Haupt in die Leinentücher des Bettes vergraben hatte, plötzlich mit heiserer, herzbrechender Stimme durch Decken und Tücher hindurch: »O Mutter! Mutter! Mutter!« Und die Schwester warf sich wild auf den Fußboden nieder und schlug mit rasender Stirn gegen den Bettpfosten. Sie wand sich krampfhaft am Boden und zitterte, wie bei einem epileptischen Anfall. »Jesus! Jesus! O Mutter! Jesus!« hauchte sie.
Dann keuchten und röchelten beide, wie von einem Schmerzensorkan gepeitscht. Nur allmählich ließ der Anfall nach und machte einem sanften Weinen Platz, wie windstille Regengüsse nach Gewitterböen auf tobendem Meere.
Erst lange nachher erhoben sie sich wieder und begannen die teure Leiche zu betrachten. Und die Erinnerung, die gestern noch so süße, heute so quälende Erinnerung, befiel ihren Geist mit allen ihren vergessenen Einzelheiten, allen ihren intimen und trauten Kleinigkeiten; und die geliebte Tote lebte ihnen wieder auf. Sie erinnerten sich der mannigfachsten Lebenslagen, der Worte, des Lächelns, des Stimmfalls der Frau, die nun nie mehr mit ihnen reden sollte. Sie vergegenwärtigten sie sich in ihrer glücklichen Ruhe, sie entsannen sich aller Worte, die sie zu gebrauchen pflegte, und einer gewissen kleinen Handbewegung, die sie bisweilen machte, wenn sie ein wichtiges Gespräch führte.
Und sie liebten sie, wie sie sie nie geliebt hatten, und ermaßen an ihrer Verzweiflung, wie teuer sie ihnen gewesen war, wie allein und verlassen sie jetzt waren.
Sie war ihr Halt, ihr Leitstern gewesen; ihre ganze Jugend, die ganze fröhliche Hälfte ihres Daseins war mit ihr dahin; das Band, das sie an’s Leben geknüpft, ihre Mutter, der Leib, der sie geboren, das Glied, das sie an die Kette der Vorfahren gebunden, war zerrissen. Von nun an würden sie allein und vereinsamt sein und nicht mehr zurückblicken können.
– Du weißt, sagte die Nonne zu ihrem Bruder, wie gerne Mama ihre alten Briefe wieder las. Sie sind da alle in ihrer Schublade. Wenn wir sie jetzt lesen, werden wir ihr ganzes Leben in dieser Nacht noch einmal durchleben. Es wäre wie ein Gang auf den Kirchhof, denn wir würden auch ihre Mutter und ihre Großeltern kennen lernen, die wir nicht kannten, deren Briefe auch da sind, und von denen sie so oft sprach. Du entsinnst dich doch? –
Und sie nahmen aus der Schublade ein Dutzend Päckchen von vergilbtem Papier, die sorgfältig zusammengebunden und auf einander gelegt waren. Sie warfen diese Reliquien auf das Bett und nahmen ein Päckchen mit der Aufschrift »Vater« heraus, machten es auf und lasen.
Es waren alte Episteln, wie man sie in alten Familien-Schreibtischen vorfindet, Episteln, die nach dem letzten Jahrhundert schmeckten. Die erste begann: »Mein Herzchen«, eine andere »Mein liebes kleines Mädchen«, wieder andere: »Liebes Kind« und schließlich auch »Meine liebe Tochter.« Und plötzlich begann die Nonne laut zu lesen – der Toten ihre eigene Lebensgeschichte vorzulesen, all ihre holden Erinnerungen, und der Beamte hörte aufmerksam zu, während er einen Ellenbogen auf das Bett stützte und seine Mutter anblickte. Die Leiche lag unbeweglich; ihr schien wohl zu sein.
Schwester Eulalia hielt plötzlich inne und sagte: »Wir sollten sie ihr alle ins Grab legen, ihr ein Leichentuch daraus machen und sie darin begraben.« Dann nahm sie ein andres Päckchen zur Hand, das keine Aufschrift trug, und begann mit lauter Stimme: »Angebetetes Weib! ich liebe dich bis zur Besessenheit. Seit gestern schmachte ich wie ein Verdammter im Fegefeuer; die Erinnerung an dich verzehrt mich. Ich fühle deine Lippen noch auf meinen Lippen, deine Augen noch in meinen Augen, deine Brust an meiner Brust. Ich liebe dich! Ich liebe dich! Rasend hast du mich gemacht. Meine Arme strecken sich dir entgegen. Ich atme beklommen und sehne mich unendlich, dich noch einmal mein zu nennen! Mein ganzes Wesen schreit nach dir! Auf meiner Zunge liegt mir noch der Geschmack deiner Küsse«…
Der Beamte hatte sich hoch aufgerichtet, die Nonne hielt inne. Er riss ihr das Blatt aus der Hand und suchte nach der Unterschrift. Es stand nichts darunter, als diese Worte: »Dein dich anbetender« und darunter »Henry.« Ihr Vater hatte René geheißen. Er konnte es also nicht sein. Da wühlte der Sohn mit zitternder Hand in den Päckchen herum, riss ein anderes Schreiben heraus und las: »Ich kann es ohne deine Liebe nicht mehr ertragen«… Er war aufgestanden, streng, als ob er von seinem Richterstuhl aufstünde, und sah die Tote unverwandt an.
Die Nonne stand hoch aufgerichtet, wie ein Marmorbild, und blickte, während Tränen ihr in die Augenwinkel traten, ihren Bruder erwartungsvoll an. Der aber schritt langsam durchs Zimmer bis an’s Fenster und starrte träumend in die Nacht hinaus.
Als er sich umdrehte, stand Schwester Eulalia, jetzt trockenen Auges, noch immer am Bette der Toten und senkte das Haupt.
Er trat wieder näher, hob die Briefe hastig auf und warf sie durcheinander in die Schublade, dann zog er den Bettvorhang schweigend zu.
Und als die Kerzen, die auf dem Tische brannten, im Tagesschein verblichen, erhob sich der Sohn langsam aus