Oval. Elvia Wilk
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»Unstimmigkeiten in Bezug auf was?«
»Sie haben sich nie offiziell darüber geeinigt, wie viel Technik es tatsächlich auf dem Berg geben soll. Einige der Architekten sind der Meinung, ihr solltet es nicht ganz so gemütlich haben. Die finden es zum Beispiel nicht sehr authentisch, dass ihr Klimaanlagen habt.«
»Aber das System zur Regulierung des Klimas hängt am zentralen Stromnetz. Das ist eintausend Prozent CO2-neutral. Das schadet der Umwelt gar nicht.«
»Ganz offensichtlich. Ich bin auf eurer Seite. Es ist immer eine willkürliche Entscheidung, was natürlich genannt wird, und was künstlich. Diese Entscheidungen sind alle symbolisch, und jede von ihnen repräsentiert eine politische Stellungnahme.«
»Aber wenn irgendjemand entscheidet, dass unsere Klimaanlage und unsere Heizung unnatürlich sind, was kommt dann als nächstes? Dann findet irgendjemand, dass sauberes Wasser fake ist, und dann findet jemand, dass auch LEDs fake sind, und dann sagt jemand, wir dürften nichts essen, was wir nicht selbst anbauen. Wer entscheidet diese Angelegenheiten eigentlich?«
»Das ist sozusagen das andere Problem. Eine Gruppe von Architekten hat gekündigt. Sie waren verärgert, dass ihre Pläne wie Vorschläge behandelt wurden und nicht wie verbindliche Vorgaben.«
»Und keiner weiß davon.«
»Daher der PR-Aspekt. Ich habe alle Hände voll zu tun, da ’nen Deckel draufzuhalten. Wir wollen nicht, dass die Leute durchdrehen.«
»Es scheint dir egal zu sein, ob ich durchdrehe.«
»Ich glaube, du kannst damit umgehen.«
»Kann ich auch. Aber was sollen wir tun? Wir können nicht ewig in diesem Haus sitzen und abwarten. Immerhin hast du uns da reingeholt?«
»Nur Geduld. Sobald die da oben ihre Entscheidungen getroffen haben, sind die Lösungen einfach. Um die Heizung zu reparieren, müssen sie, glaube ich, nur ein paar durchgetrennte Kabel wieder mit dem Herzstück verbinden, oder wie sie es auch immer nennen, dieses ZPE-Ding.«
»Du hast wirklich keine Ahnung von der Technik.«
»Nicht die geringste. Ich halte mich an die Politik. Ich meine PR.«
Ihre Schwester hatte sie damals überzeugt, die Geschichte mit Howard zu beenden. »Er projiziert irgendeine Fantasie auf dich«, hatte Eva gesagt. »Wie alt ist er, fünfundvierzig? Er will jemand ewig Junges. Er glaubt, du fändest es okay, das Mädchen für nebenbei zu sein. Er wird sich nie wirklich für dich entscheiden.«
Anja hatte nie erwartet, dass Howard sich für sie entschied – tatsächlich wollte sie ganz genau das nicht –, aber die Vorstellung, von irgendjemandem als das »Mädchen für nebenbei« wahrgenommen zu werden (neben was eigentlich?), war schlimm genug, dass sie sich überzeugen ließ, Schluss zu machen. Da sie sich nicht in der Lage fühlte, aus sich heraus die Verbindung zu kappen, gelang es ihr, sich einzubilden, dass er sie zurückwies, und damit begab sie sich hinab in den Tunnel körperdysmorpher Störungen. Sie machte sich selbst glauben, Howard befände sich auf der Suche nach irgendeinem Idealbild mädchenhafter Perfektion und jede kleine Unebenheit disqualifiziere sie. Es konnte nicht sein, dass sie an ihm romantisch gesehen vielleicht gar nicht so sehr interessiert war; nein, das war keine Option; er war eine einflussreiche Person; die Erklärung konnte nur lauten, dass sie inadäquat war.
Sie gab sich Selbstzweifeln hin, verdeckte in seiner Gegenwart ihre Arme, ihre Waden, ihre Brüste, wurde sprunghaft, und sorgte für immer peinlichere Szenen. Am Tiefpunkt ihrer Beziehung beschuldigte sie ihn, beim Sex immer nach ihren fettesten Körperpartien zu greifen. Er sagte: »Selbstverständlich, die mag ich am liebsten«, und das war dann das Ende.
Louis hingegen wurde von Eva akzeptiert. »Ich hab ein Bild von ihm im Internet gefunden«, sagte sie. »Der ist heiß. Siehst du, es hat nur einen Monat gedauert, bis du einen Besseren gefunden hast. Du solltest eine höhere Meinung von dir selbst haben.«
Anja beschloss, in diesen Angelegenheiten nicht mehr auf Eva zu hören. Sie hatte das schon oft beschlossen und war immer wieder eingeknickt, doch bei Louis gelang es ihr endlich, Eva nicht immer weiter mit Details zu füttern; Louis sollte ein heiliger Raum bleiben, frei von bohrenden Fragen. »Du musst es ernst mit ihm meinen«, hatte Eva gesagt. »Ich höre keinen Mucks von dir. Nutzt er dich aus? Ich habe gerade erst online einen Artikel gelesen, da ging es um dieses Mansplaining.«
So konnte sie nicht Evas schlechten Ratschlägen die Schuld geben, als sie und Louis nach nur wenigen Monaten in eine Krise gerieten. Es lag an ihrer Wohnsituation – an der wiederum Anja die Schuld trug. Der Schrebergarten, in dem sie illegal lebten, sollte abgerissen werden und sie hatten keine Ahnung, wohin. Sobald irgendwo tief im Inneren des Ordnungsamtes das betreffende Papier den betreffenden Stempel erhalten hatte, sollte die gesamte jahrhundertalte Schrebergarten-Kolonie zugunsten eines Apartment-Komplexes plattgemacht werden. Man konnte den Verlust des geschichtsträchtigen Erbes beklagen, noch lauter ließ sich jedoch über den Mangel an erschwinglichem Wohnraum klagen, und so war der Bau der Wohnanlage ohne großen Protest beschlossen worden.
Ihr Schrebergarten lag gerade noch innerhalb des S-Bahn-Rings, der die Grenze jenes Teils der Stadt markierte, in dem sich komfortabel leben ließ. Vor langer Zeit waren die Tausenden von Gartenparzellen als urbane Zufluchtsorte geschaffen worden, über die Stadt verteilte Naturstücke, in denen ausgelassene Kinder frei herumtollen konnten. Doch als während des Ersten Weltkriegs Nahrungsmittel plötzlich knapp wurden, verwandelte man die kleinen Gärten rasch in urbane Bauernhöfe, was einer Urbewegung des nachhaltigen Lebens gleichkam. Später, als der Krieg vorbei war, die Embargos gelockert wurden und die vom Elend erschütterte Stadt kurzzeitig sich selbst überlassen war, richteten sich die Ärmsten der Ärmsten in den Gärten ein. Hütten wurden zu Heimen, aus hausen wurde wohnen. Doch bevor es sich irgendjemand zu gemütlich machen konnte, leerte der nächste Krieg die Gärten ein weiteres Mal, überließ sie dem Wildwuchs, und zum ersten Mal in vielleicht tausend Jahren übernahm wieder die Natur.
In der nächsten Nachkriegszeit, der Ära der großen Teilung, wurden einige Gärten in der Mitte durchgeschnitten und entwickelten sich zu Portalen des Schmuggels unter dem wuchernden Grün. Schließlich fiel die Mauer, oder besser gesagt, die Mauer wurde von Tausenden von Händen und Maschinen niedergerissen, und wieder einmal verwandelte sich die Stadt in eine riesige Fläche von leeren Immobilien; die Gärten wurden wieder parzelliert und in Naherholungsgebiete fürs Wochenende umfunktioniert; die Vorfahren von Menschen wie Anja und Louis begannen aufzukreuzen. So wurde jeder winzige Garten mitsamt all seinem historischen Gepäck ein Stückchen Privatbesitz zu Freizeitzwecken. Die ganze Sache, das heißt, die ganze Stadt, bewegte sich im Kreis, die Geschichte drehte und verwickelte sich wie ein Haarknäuel im Abfluss.
Zu dem Zeitpunkt, als Anja in der Stadt ankam, waren die Mieten innerhalb des S-Bahn-Rings höher denn je und alle zentral gelegenen Schrebergärten bereits renoviert und vergeben. Nicht übersaniert wie die meisten Wohnblöcke in der Stadt, vielmehr nutzte man ihren Miniaturcharme, um sie in winzige, überteuerte Mieteinheiten zu verwandeln, die Städtern eine »Ausflugserfahrung« bieten sollten. Nur einige entlegenere Gärten jenseits der Peripherie waren immer noch verwahrlost und nicht reguliert. Anja hatte ihren Garten auf einem langen Wochenendspaziergang Richtung Süden entdeckt. Fernab von allen Bahnhöfen stieß sie auf die umzäunte Anlage aus zwölf kleinen Häusern, die durch zottelige Hecken voneinander getrennt waren und zusammen nur etwa den Platz von zwei