Schaurige Orte in der Schweiz. Christof Gasser
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Dabei hätte ich auf dem Bild sein sollen, mit meiner Katharina. Lange Zeit habe ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Ich habe meine Kunden auf den Säntisgipfel geführt, manchmal bin ich auch alleine hochgestiegen. Ich versuchte weiterzumachen, eröffnete erneut eine Schuhmacherei, führte daneben meine eigene Berg- und Skischule. Doch es war, als hätte sich auf einmal alles gegen mich verschworen. Das Geld ging aus, die Schulden wuchsen, die Pfändungen häuften sich. Wieder folgte ein Konkurs. Niemand war mehr bereit, mir zu helfen. Doch ich brauchte Geld, um zu überleben.
Es war nicht mein Fehler. Heinrich Haas war für meine Misere verantwortlich. Er allein. Obwohl ich den seelenlosen Schuft dafür verachtete, war er meine letzte Chance. Ich brauchte Geld. Er verdiente genug. Er war es mir schuldig.
Neue Zürcher Zeitung,
26. Februar 1922
Unglücksfälle und Verbrechen.
Dieser Tage ging die Meldung durch die Presse, dass die Telegraphenverbindung und die Telephonleitung nach der Säntisstation offenbar durch Schneedruck zerstört worden und der Säntiswart mit seiner Frau von jeder Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten sei. Die Meldung erregte kein Aufsehen, da an den Leitungen schon öfters Defekte vorgekommen sind. An einen Unfall wurde nicht gedacht. Am Samstag wurde nun gemeldet, dass der Säntiswart und seine Frau ermordet worden sind. Säntisträger Josef Anton Rusch unternahm am Samstag einen Aufstieg nach der Beobachtungsstation und fand zu seinem Schrecken das Ehepaar Haas als Leichen auf. Der Mann lag im Freien, die Frau im Stationsgebäude. Genaue Einzelheiten fehlen noch, da der Säntisträger keine weitere Untersuchung vornahm. Übermittelt ist einzig, dass das Arbeitszimmer, in dem die tote Ehefrau gefunden wurde, verwüstet war. Eine polizeiliche Untersuchung ist eingeleitet. Zur Sicherstellung des Tatbestandes begab sich am Sonntagmorgen um drei Uhr früh eine Abordnung der Gerichtsbehörden von Appenzell aus an Ort und Stelle. Über die Täterschaft kursieren verschiedene Gerüchte. Wie wir aus St. Gallen erfahren, glaubt man, dem Mörder auf der Spur zu sein.
Ich erinnere mich nicht mehr, was in meinem Kopf vorgegangen ist, als ich aufbrach. Es war die absolute Ausnahmesituation. Ich sah keinen Ausweg mehr, also trieb es mich hinaus, nur dieses eine Ziel im Sinn, der Berg, der Säntis, ohne eine Ahnung, was ich machen würde, wenn ich dort ankommen sollte.
Ich habe nicht damit gerechnet, den Gipfel zu erreichen. Keine Ahnung, warum ich die Nasenlöcherroute wählte, sie ist nach den zwei nebeneinanderliegenden Höhlen benannt, an denen sie vorbeiführt. Die Route ist im Sommer gefährlich, im Winter kommt sie einem Selbstmord gleich. Vielleicht hatte ich genau das im Sinn: sterben – dort oben, wo ich es am schönsten fand. Selbst das hat nicht funktioniert.
Der Kampf im Schnee. Die Kälte zerfrisst dich. Alle Kraft ist weg, dein Körper ist leer, doch du treibst ihn weiter und weiter, obwohl du blind bist und die Welt aus nichts anderem mehr besteht als dem undurchdringlichen Weiß und deinem Keuchen. Die dünne Luft rasselt in der Lunge, du denkst, zwei Schritte noch, dann fällst du um, doch dann werden es drei, dann noch einer und noch einer, du weißt, wenn du nur kurz innehältst, dann schläfst du ein, dann bist du tot. Noch ein Schritt, plötzlich der Schatten vor dir: die Hütte. Die Wetterstation. Das Observatorium. Geschafft. Du bist ganz oben auf dem Gipfel des Säntis. Ankommen. Anklopfen. Wärme.
Doch die Wärme hat nicht lange angehalten. Hätte mich doch eine Lawine zu Tal gerissen. Sie hätte zwei Leben gerettet, und ich wäre einen heldenhaften Bergtod gestorben. Es sollte anders kommen.
Neue Zürcher Zeitung,
27. Februar 1922
Unglücksfälle und Verbrechen.
Wie wir soeben vernehmen, haben die hiesigen kantonalen Polizeibehörden Steckbriefe gegen zwei Männer erlassen, die als Täter beim grausigen Doppelmord infrage kommen könnten. Die Fahndung richtet sich gegen einen in Herisau eingebürgerten Ausländer, um den Schuhmacher und Skilehrer Kreuzpointner, der vor einiger Zeit in Konkurs geraten war. Die andere betrifft einen Mechaniker Müller, der nach den Feststellungen des Polizeikommandos schon seit einigen Tagen nicht mehr in seine Behausung zurückgekehrt ist.
Wahrscheinlich war der in der Region bekannte Kreuzpointner der letzte Besucher des Observatoriums auf dem Säntis, er soll dort einige Tage verweilt haben. Wie die kantonale Polizeidirektion in Appenzell auf Anfrage hin mitteilt, gab der Säntiswart Haas in seinem letzten Dienstbericht bekannt, dass sich Kreuzpointner bei ihm befinde, dass er ihn ständig belästige, dass er aber hoffe, sich seiner bald entledigen zu können. Schon früher gab seine Ehefrau bei einem telephonischen Gespräch an, dass ihr auffalle, dass Kreuzpointner oft auf dem Gipfel erscheine und dass er offenbar ihren Mann um finanzielle Hilfe angehe. Noch am letzten Sonntag telephonierte Frau Haas mit der Frau des Säntisträgers Rusch und berichtete von dem ungebetenen Gast. Sie fragte nach baldigem Proviant, weil das Essen knapp werde. Das letzte Lebenszeichen vom Observatorium kam am Dienstag von Frau Haas, als sie sich vom Dienstchef des Telegraphenamtes in St. Gallen beraten ließ, wie mit dem unangenehmen Gast am besten zu verfahren sei. Man vermutet, dass Kreuzpointner mit der Tat in Verbindung zu bringen ist, da man von anderen Besuchern des Säntisobservatoriums nichts weiß.
Zuerst hieß es, dass Haas und seine Frau erstochen worden seien. Nach den letzten Mitteilungen der Mannschaft aber, die sich am Morgen um drei Uhr früh von Appenzell aus auf den Säntis begab, sind die beiden Eheleute erschossen worden. Bereits am Nachmittag waren die Männer mit den Leichen wieder ins Tal zurückgekehrt, doch weitere Berichte stehen noch aus.
Als ich in der Säntishütte ankam, merkte ich sofort, dass ich nicht willkommen war. Statt mir Tee und Brot anzubieten, fragte Lena, was ich schon wieder hier suche. Keine Freundlichkeit, sie sprach, als speie sie Gift. Ich setzte mich an den Tisch und verlangte nach Stärkung, entkräftet wie ich war. Da kam Heinrich herein. Er war nicht viel freundlicher als seine Alte. Aber weiß der Teufel, vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen. Er wies Lena an, mir Essen aufzutischen, und sagte, ich könne bleiben über Nacht, doch am nächsten Morgen müsse ich mich wieder an den Abstieg machen.
Es war nicht meine Absicht zu gehen. Wohin auch? Im Tal erwartete mich nichts Gutes, keine Frau, die um mich bangte, nur Gläubiger, die mir Geld abnehmen wollten, das ich nicht hatte. Noch sagte ich nichts, ich wollte nur schlafen, mehr nicht.
Am nächsten Tag blieb ich. Das Wetter war stürmisch, ich weigerte mich, unter diesen Bedingungen den Abstieg zu wagen. Sie protestierten. Ich rührte mich trotzdem nicht: Ich würde nur gehen, wenn sie mir Geld gaben, erklärte ich. 300 Franken. Erst lachten sie mich aus. Dann verfluchten sie mich. Schließlich versuchten sie, mir aus dem Weg zu gehen; schwierig, in der kleinen Hütte. Sie verweigerten mir das Geld und bald auch das Wort. Und wenn sie doch zu mir sprachen, dann nur, um mich zum Gehen aufzufordern. Die Schwere des Schweigens wurde unerträglich. In der unliebsamen Stille lag die Vorahnung, dass bald etwas passieren würde. Nichts Gutes.
Am dritten Tag belauschte ich Lena am Telefon. Ich kann nur ahnen, mit wem sie sprach. Sie klagte über einen »unliebsamen Gast« und fragte, wie sie ihn dazu bringen könne zu gehen. »Unliebsam« nannte sie mich! Am Abend kochte Lena Kartoffelsuppe, dazu gab es altes Brot und getrocknete Wurst. Ich sagte, ich hätte das Gespräch gehört. Heinrich polterte, er wurde ausfällig und brüllte, ich solle gehen.