Schaurige Orte in der Schweiz. Christof Gasser

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Schaurige Orte in der Schweiz - Christof Gasser страница 6

Автор:
Жанр:
Серия:
Издательство:
Schaurige Orte in der Schweiz - Christof Gasser

Скачать книгу

die New-Palace-AG soll Schmidt eine Tradition weiterführen und den einen oder anderen Traum des Barons wahr werden lassen. Das ist eine Herausforderung, die ganz nach seinem Geschmack zu sein scheint. Und ja, ich, Gregor Lüscher, bin natürlich mit dabei als erster Assistent des Chefs. Vorerst jedenfalls. Es würde uns freuen, wenn wir Sie schon bald zu unseren neuen Gästen zählen dürften.

      *

      Ein Alpenpass hat zwei Seiten. Normalerweise startet man auf der einen Seite und fährt hoch bis zum Hospiz, bis zum höchsten Punkt mit der Tafel, auf der die Höhe über Meer angegeben ist. Dann geht es auf der anderen Seite hinunter in ein neues Tal, in eine neue Region. Eine Passfahrt ist für viele Flachländer etwas Besonderes, sowohl für Motorradfans, die das ultimative Kurvengefühl suchen, als auch für Automobilisten. Umgeben von einer schützenden Blechschicht erleben diese die Bergwelt aus einer sicheren Distanz.

      Im Engadin sind Passfahrten eine Notwendigkeit. Um das Tal zu verlassen, müssen Bewohner und Gäste über die Berge. Steffen als Zugezogener ärgert sich jedes Mal, wenn ihm der Weg in den Süden versperrt wird. Das Hindernis versucht er möglichst schnell hinter sich zu lassen, mit einer ordentlichen Ladung PS unter der Haube.

      Etwas langsamer geht es bei den Radfahrern, die für eilige Automobilisten ein weiteres Ärgernis sind. Aus eigener Muskelkraft überwinden sie mit energischen Kurbeldrehungen Höhenmeter um Höhenmeter. Es gibt die Tourenfahrer mit schwer bepackten Rädern, die schwitzend ihre Routenwahl verfluchen und sich später ganz oben stolz in den Armen liegen, ein Foto für ihren Social-Media-Account schießen und danach die Abfahrt in Angriff nehmen.

      Wer mit dem Mountainbike am Berg herumkurvt, befährt das einsame Tal, als hätte er es selber entdeckt, und springt über Steine wie ein Zicklein, das zum ersten Mal aus dem Stall darf. Die Mountainbikerin und der Mountainbiker fahren gerne auf rauen Wegen, je wilder, desto besser. Wenn sie am Abend schmutzbespritzt nach Hause kommen, war es ein guter Tag für sie, von dem sie noch lange erzählen können. Für Steffen ist das nichts, er schwitzt lieber im hoteleigenen Fitnessstudio oder in der Sauna spätabends, wenn die Gäste längst an der Bar sitzen.

      »Wenn du hier im Tal so richtig ankommen, Wurzeln schlagen und die Berge spüren willst«, sagt Greg, sein engster Mitarbeiter, immer mal wieder, »musst du sie selber erobern.«

      Mitarbeiter ist eigentlich falsch, Greg ist der Untergebene, der Assistent, doch Steffen will nicht, dass ein zu großes Gefühl der Hierarchie aufkommt, denn Greg hatte sich ebenfalls für die Führungsstelle beworben, die Steffen als Fremder mit besten Qualifikationen nun innehat. So bemüht er sich um einen kollegialen Ton, lässt aber nie Zweifel aufkommen, dass er am Ende das letzte Wort haben würde.

      Greg gehört zu den harten Mädels und Jungs, die das Rennrad für ihre Passfahrten nehmen. Sie legen keinen Wert auf Firlefanz, was sie brauchen, findet in den Rückentaschen des Trikots Platz. Die behelmten und in den Farben ihrer Lieblingsteams gekleideten Rennradfahrer sind die Musketiere der Pässe. Auf ihren Leichtgewichträdern, die oft mehr kosten als ein Kleinwagen, fahren sie die steilsten Rampen hoch, vergleichen dann auf dem Handy ihre Leistung mit anderen und stürzen sich wagemutig den Berg hinunter, oft schneller als die ortsunkundigen Automobilisten, die sie auch in engen Tunnels überholen. Zu Hause duschen sie und sind bereit für den Alltag. Sie werden von der Lust am Leiden und von der unstillbaren Suche nach den eigenen Grenzen angetrieben.

      Wie gesagt, erst fährt man hinauf, dann wieder hinunter. Erst kommt die Anstrengung, dann das Vergnügen. Bei einem normalen Pass wie dem Bernina, dem Flüela oder dem Albula ist das so.

      Als Greg Steffen anbietet, zusammen den Malojapass unter die Räder zu nehmen, willigt dieser ein. Zu schnell, wie ihm jetzt bewusst wird. Der Maloja ist tückisch. Wenn man vom Engadin her kommt, erlebt man eine gemütliche Anfahrt, vorbei an tiefblauen Seen. Wer am Morgen in Richtung des Ortes Maloja radelt, muss nicht mal gegen den Wind ankämpfen, der fast täglich ab 11 Uhr vom Comer See her aufkommt, zur Freude der Windsurfer und Segler auf den alpinen Gewässern.

      Steffen hat nur eine kurze Anfahrt. Vom Hotel Maloja Palace, in dem er eine Suite bewohnt, ist es nicht weit bis zum Parkplatz am südlichen Ende des Dorfes, wo ihn Greg erwartet. Einige Reisende machen Fotos und fahren dann weiter Richtung Italien. Steffens Rennrad ist knallrot, ein Schnäppchen. Sehr bequem zum Fahren, findet er nach einer Proberunde. Das Wenige, was man für eine kurze Passfahrt braucht, hat er in die Taschen seines Trikots gesteckt. Er fährt in den Farben eines belgischen Teams, das ist er dem Hotelgründer schuldig. Greg und er würden wie Profis unterwegs sein. Wie Profis, jedoch mit einer Bankkarte für die gehobene Küche in einem südlichen Ristorante.

      Sie fahren bei schönstem Wetter mit tiefblauem Engadiner Himmel los, von der Frische des Alpentales hinunter in die feuchte Hitze von Chiavenna, und verbringen dort hinter dicken Mauern mit Blick auf die Mera zwei gemütliche Stunden.

      Das üppige Essen nach der leichten Abfahrt ist ein Genuss, angereichert mit Gregs Erzählungen.

      »Eine Fahrt den Pass hinauf ist eine Fahrt durch die Geschichte«, erzählt er und hebt lachend sein Glas. »Uns wird ganz schön viel Blut entgegenfließen.«

      Da nickt Steffen noch unternehmungslustig.

      Nach dem Essen schwingen sich die Männer auf die Sättel, klicken die Schuhe in die Pedale ein und fahren ohne Eile über das Kopfsteinpflaster der Altstadt. So müsste die weitere Tour sein, denkt Steffen. Langsam an den stattlichen Häusern der wohlhabenden Familien vorbeirollen, die einst viel Geld mit dem Handel über die Alpenpässe gemacht haben. Ab und zu einen Blick in die schattigen Innenhöfe werfen, um die Tische der Straßencafés kurven, auf denen große Gläser mit kühlen Getränken stehen.

      Als sie den Aufstieg in Angriff nehmen, eine ausgiebige Mahlzeit im Magen, Veltliner Pizzoccheri mit reichlich Käse und Butter überbacken, danach ein gutes Stück Fleisch mit Kroketten, davor ein großes Bier gegen den Durst, zum Essen ein sonnendurchfluteter Wein und Grappa zum Kaffee, merkt er, dass die 36 Kilometer zurück ins Engadin, zurück ins Hochtal, nicht einfach werden. Denn im Gegensatz zu den anderen Alpenpässen beginnt der Maloja auf 1.800 Metern und führt hinunter bis ins italienische Chiavenna, mit gerade mal 333 Metern über Meereshöhe. Was in einer guten Stunde genussvoller Abfahrt erledigt ist, wird umgekehrt zu einer fast nicht enden wollenden Qual.

      Die Sonne brennt mit gefühlten 40 Grad auf die Dächer der Stadt. Zwischen den Gipfeln über ihnen braut sich ein Gewitter zusammen, dunkle Wolken kleben an den steilen Felswänden, die sich rund um die italienische Kleinstadt am Alpenrand erheben.

      Erst geht die Fahrt an eintönigen Betonbauten vorbei durchs Stadtrandgebiet. Gleich außerhalb von Chiavenna beginnt die erste Steigung, die nicht ohne ist. Steffen konzentriert sich auf Gregs Hinterrad und versucht, die Atmung zu kontrollieren. Vier Umdrehungen einatmen, vier ausatmen. Lisa, Lara, Lisa, Lara. Lisa hatte darauf bestanden, dass ihre Tochter ähnlich heißen sollte wie sie, was er lächerlich fand. Jetzt aber passen die Namen zum Rhythmus.

      Das Tempo ist eine Herausforderung, die er annehmen muss. Nicht schlapp machen, keine Blöße bieten, schon gar nicht am Anfang. Greg wird schon sehen, wie er beißen kann. Er wird Asphalt und Höhenmeter fressen, so wie er die Spezialitäten vertilgt hat. Im Hotel ist Steffen als energischer Macher bekannt. Diese Straße wird ihn nicht in die Knie zwingen.

      Die Beine schmerzen von Anfang an, wohl eine Folge der Haltung am engen Tischchen in der Osteria. Das gibt sich, denkt Steffen, sobald die Muskeln in Bewegung sind, sobald das Blut zirkuliert, das Herz ordentlich pumpt und die gesamte Maschinerie mit Sauerstoff versorgt wird.

      Piuro, die Straße wird noch etwas steiler, sie ist von mächtigen Felsbrocken gesäumt. Erste Tropfen fallen auf den nassen Asphalt und verdampfen in der Nachmittagshitze, der Geruch nach Reifengummi und Staub nimmt ihm fast

Скачать книгу