Schaurige Orte in der Schweiz. Christof Gasser
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Читать онлайн книгу Schaurige Orte in der Schweiz - Christof Gasser страница 7
»Dort oben am Conto«, Greg deutet auf einen Berg rechts über ihnen, »löste sich im September 1618 nach tagelangem Regen eine gewaltige Gesteinsmasse und begrub das antike Plurs samt seinen 2.000 Bewohnern unter sich.«
Sie stehen schweigend da. Nach einigen Minuten beginnt Steffen im feuchten Trikot zu frösteln. »Warten bringt nichts«, sagt er und steigt auf sein rotes Rad. Greg übernimmt wieder ungefragt die Führung.
Um sie herum kühle, tropfende Nässe. Die Brillengläser sind angelaufen, mit den feuchten Handschuhen versuchen sie, etwas Klarheit zu schaffen. Immer wieder schaut Steffen zum gegenüberliegenden Hang hinauf. Nebelschwaden ziehen über die Baumwipfel. Wenn jetzt der Berg käme, was dann? Nach vorn schauen, über den Lenker gebeugt, Gregs Hinterrad nicht verlieren. Das Hinterrad ist sein Ein und Alles. Die Mittelachse zwischen Gregs muskulösen Waden.
Auf der Straße fließt das Wasser wellenförmig abwärts, die vorbeirauschenden Autos bespritzen die nassen Männer immer und immer wieder. Dann tauchen plötzlich Gesichter auf, schimmern durch den Asphalt. Nasen und Ohren und Fratzen im Wasser, die schreien.
»Hast du das gesehen, Greg?«
Keine Antwort. Nur das Zischen der Reifen auf dem Asphalt.
Wir sind die Vergessenen, die im Stein Versunkenen, verurteilt zu ewiger Verdammnis. Wir sind verborgen in der Tiefe, erstickt im Schlamm. In den großen Vorratsräumen unserer Häuser lagern Reichtümer, Seidenstoffe aus fernen Ländern, Edelmetalle und Specksteintöpfe aus heimischer Produktion. Doch was haben die uns genützt? Ein weiteres Leben konnten wir uns nicht kaufen, sosehr wir auch bitten und beten. Wenn es regnet, erinnern wir uns an jene Nacht, als der Berghang kam, ins Tal hinunterrauschte, alles mitriss und unter sich begrub. Gierig und unberechenbar.
Wenn es regnet, kommen wir herauf und holen uns müde Wanderer, unvorsichtige Kinder beim Beerensuchen, gierige Pilzsammler. Und natürlich auch mal einen Rennradfahrer, der seine Kollegen verloren hat und alleine unterwegs ist. Ihnen allen zeigen wir unsere Schätze, führen sie hinunter in unsere Häuser und lassen sie nie mehr gehen.
Nicht hinsehen, denkt Steffen, nicht hinsehen, das ist der Alkohol, das Cholesterin im Blut. Er darf Gregs Hinterrad nicht aus den Augen verlieren und alles ist gut. Doch dann ist der Reifen nur noch verschwommen zu sehen hinter einem Regenschleier, aus dem ihn feurige Augen anstarren. Auf der Straße zerfließende Gesichter, Wangen, die blutrot aufspritzen, wenn er darüberfährt. Nasses Frauenhaar, das achtlos im Schmutz liegt, wickelt sich um seine Speichen, verklemmt die Gangschaltung, blockiert das Tretlager, sodass Steffen kaum vorwärtskommt. Wenn er stürzt, dann wird er in den offenen Mäulern landen, verschwinden im Schlund der Vergessenen.
Ich pfeife auf euch, denkt Steffen, er will es laut herausschreien, auch wenn nur ein Gurgeln aus seiner Kehle kommt, ein heiseres Krächzen. Mich kriegt ihr nicht, nicht mich und nicht mein rotes Fahrrad, das feuerrot und nicht blutrot ist.
Ein himmelweiter Unterschied, den Männer oft nicht kennen, denn Farben sind ja nicht ihr Ding, das sagte auch Karin, als er sie auf ihren Lippenstift ansprach. »Das ist nicht blutrot, sondern feuerrot, feuerrot wie die Liebe.« Und dabei hatte sie ihm zugezwinkert. Eine eindeutige Einladung, wie er fand. Was sie aber nicht gemeint hatte.
Karin, denkt Steffen, feuerrot wie die Feuerwehr. Er drückt die Beine durch, spürt, wie die Kraft in seine Muskeln schießt, und sieht, wie sein Vorderrad fast wie von selbst durch das Wasser pflügt. Endlich. Die Straße wird flacher. Und plötzlich ist das Hinterrad von Greg weg. Nach rechts abgebogen auf einen Parkplatz.
»Komm!«, ruft der Untergebene seinem Chef zu, der viel hilfloser ist, als er es gerne zugeben möchte, und zieht ihn mit zu einem Haus auf der anderen Straßenseite. Ein Grotto. Wärme, Licht und Leute. Summende Geschäftigkeit. Die Regale voller Flaschen für Kunden aus der benachbarten Schweiz. Steffen überlässt Greg die Verhandlungen und stellt sich neben einen Elektroofen, der angenehme Wärme verbreitet.
Sie trinken Espresso und Grappa, stecken sich noch eine kleine Flasche Kräuterschnaps für später in die Trikottasche und verlassen das Lokal.
Das Unwetter hat etwas nachgelassen und ist in einen erträglichen Landregen übergegangen. Die Straße ist nun wieder besser befahrbar. Der Grappa wärmt den Bauch, der Kaffee gibt dem gesamten Organismus einen Kick, sodass sie nun wieder besser vorwärtskommen. Bald erreichen sie die Grenze. Weiter hinauf geht die Fahrt gegen Bondo, den Ort, an dem sich am 23. August 2017 ein enormer Bergsturz mit Murgang ereignete. Steffen hatte das Ereignis und seine Folgen am Fernseher verfolgt, sah, wie große Baumaschinen die Geröll- und Schlammmassen beiseite räumten, wie verängstigte Anwohner um ihre Sicherheit fürchteten.
Bei der Talfahrt am späten Vormittag war ihm die lange Betonbrücke über das Auffangbecken nicht aufgefallen, sie waren auf der alten Straße durch Promontogno gefahren und hatten im Garten beim Hotel Bregaglia einen Kaffee getrunken. Das Hotel sei, erklärte Greg, eine Zwischenstation für die erholungssuchenden Feriengäste auf dem Weg ins Engadin gewesen. Ein Ort, um sich zu akklimatisieren. Das würde Steffen jetzt auch gerne. Sich ein Zimmer nehmen und sich akklimatisieren. Stattdessen fährt er weiter aufwärts und hofft, dass die Schinderei irgendwann vorbei sein würde.
Eine Verbotstafel am Straßenrand weist darauf hin, dass diese Strecke für Fahrräder gesperrt ist. Greg kümmert sich nicht darum. Im Nieselregen wirkt das Betonband wie eine Hängebrücke, die über einem Meer von Händen schwebt, die nach ihr greifen. Als Steffen aus dem Sattel geht, um besser sehen zu können, hört er die Klagen der toten Wanderer, die weit oben im Tal von den Schlammmassen mitgerissen und nie gefunden wurden. Er sieht, wie die Hände aufsteigen, das Geländer der Brücke packen und sie hin- und herschwingen, sodass eine Pendelbewegung entsteht. Hin und her, dass sich die gesamte Fahrbahn verdreht und ihm schlecht wird davon.
Steffen würde am liebsten absteigen und über das Geländer kotzen, doch da ist Greg, der regelmäßig kurbelnd an der Spitze fährt, ungerührt auf seinem Rennrad sitzt, als würde er sich an einer großen Rundfahrt für den Schlussspurt bereitmachen. Vor diesem Mann kann und darf er keine Schwäche zeigen. Natürlich sollte auch Karin nicht erfahren, dass er die Nerven verloren hat wegen ein paar Toten, die bei schönstem Wanderwetter hinweggefegt wurden. Euer Pech, denkt Steffen und weicht einer Hand aus, die auf der Fahrbahn liegt und nach seinem Rad greift.
Wieder macht die Brücke eine Pendelbewegung, er muss ausweichen, um nicht zu stürzen. Ausweichen nach links auf die Gegenfahrbahn, weil es eben nicht anders geht, sonst ist ein Sturz über die Leitplanke ins Meer der Hände nicht abzuwenden.
Da, Hupen, ein dunkler Wagen, der auf ihn zurast, von oben herunter aus dem Tunnel geschossen kommt, als hätte ihn ein Riese hinaus in den Regennachmittag katapultiert. Das Gesicht einer Frau, verkrampfte Hände am Steuer, wehendes Haar. Die Scheinwerfer strahlen in seine Richtung. Sie will ihn erwischen, unter dem vielen Blech begraben, denn sie ist die Rächerin, die sich die herumstreunenden Opfer holt. Lisa, Lara, denkt er, das war es also mit uns. Und mit Karin und all den anderen Frauen.
Im letzten Moment schwingt die Brücke zurück, zwingt ihn zu einer Lenkbewegung nach rechts, die ihm das Leben rettet, was die Frau mit einem wütenden Hupen quittiert. Greg schaut zurück, macht eine Handbewegung und schüttelt den Kopf. Ist er wütend, weil er so unkonzentriert fährt? Oder einfach nur froh, dass ihm ein Haufen Scherereien erspart geblieben sind?
Eigentlich dürften sie mit ihren Rädern auch nicht durch den Tunnel, doch es ist der schnellste Weg in den oberen Teil des Bergells. Durch die Betonröhre zieht und pfeift es, ein Lied, das die Toten zurückruft und die Lebenden auffordert,