Schaurige Orte in der Schweiz. Christof Gasser
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Читать онлайн книгу Schaurige Orte in der Schweiz - Christof Gasser страница 8
»Du bist für mich gestorben«, sagte Lisa, als er auszog, gezwungenermaßen mit eingezogenem Kopf. »Viel Spaß im Fegefeuer!« Nun muss allerdings sie in der Hitze herumtanzen nach diesem tragischen Autounfall.
Tunnelende. Klare Sicht. Frische Luft. Zwei Kurven, dann sind sie beim steinernen Kuss, bei zwei Felsblöcken, die gegeneinanderlehnen und einen Durchgang für die Autos bilden.
»Küss mich mit deinen feuerroten Lippen!«, hatte er zu Karin gesagt, oder es gedacht, als er sie berührte, ihre Wärme spürte, ihre Hüften, was ihm einen Schauer durch den Körper jagte. »Küss mich und bleib ewig nah bei mir!«
Der Moment war flüchtig, eigentlich wie zufällig, wenn auch durch ihn herbeigeführt im engen Durchgang zwischen der Rezeption und den Büros dahinter. Steffen hatte gewartet, bis Karin ihm die Post brachte, ging an ihr vorbei hinaus, entschuldigte sich, als hätte er sie erst jetzt bemerkt, atmete den Geruch ihres Parfums und ihrer Haare ein. Eine kurze Berührung, knisternder Stoff und die Härte, die sich augenblicklich in seinem Schritt bildete. Wohin mit all diesen Empfindungen? Die Hand an ihrer Hüfte, kurz und brennend. Ihr Blick. Verzweifelt oder lustvoll? Und was spielte das für eine Rolle, wenn er sie begehrte?
Stampa und Borgonovo bemerkt Steffen kaum, so rasend ist der Schmerz. Es zieht ihn innerlich zusammen, seine Rippen werden von Drähten zugeschnürt, sodass er kaum atmen kann, so als verwandelte er sich Zentimeter für Zentimeter in eine der mageren Figuren des Bildhauers Alberto Giacometti, der hier geboren wurde und auf dem Friedhof liegt, an dem sie vorbeiradeln. Ein lang gezogener Kopf, die Wangen eingefallen, das Kinn spitz und Finger, die kaum von Fleisch bedeckt sind und sich voller Angst an den Lenker krallen.
Steffen greift nach hinten, da ist die Flasche mit dem wohltuenden Kräuterschnaps. Medizin, bitter und stark. Ein erster Schluck treibt die Geister in die Wiesen hinaus, ein zweiter holt die roten Lippen zurück und ein dritter hilft gegen die Verzweiflung an diesem nie enden wollenden Pass.
»Wir fahren durch Vicosoprano«, entscheidet Greg und biegt von der Kantonsstraße ab.
Es ist kaum zu glauben, dass es in diesem Tal auch ebene Flächen gibt. Die Häuser des Dorfes stehen eng zusammen, beugen sich über sie und bilden enge Schluchten. Das Kopfsteinpflaster schüttelt sie durch. Greg erzählt von Hexen, über die hier gerichtet wurde, zeigt ihm den Pranger und beschreibt die Schmerzen, die die Verurteilten unter der Folter spürten.
»Das Tal ist verflucht«, sagt Greg am Ortsausgang. Vielleicht denkt das Steffen auch nur, als sie endlich das freie Feld erreichen und den Abhang vor sich sehen.
»Verflucht ist nur die nächste Steigung«, versucht Steffen, einen Scherz zu machen. Seine Stimme klingt nach Schnaps und hohlen Phrasen.
Wieder einige lang gezogene Kehren, erst an Maiensäßen vorbei, dann führt die Straße durch den Wald. Die Rampe, die hinauf nach Casaccia führt, erkämpft Steffen mit leerem Blick. Es ist der Versuch, ohne jeden Gedanken an irgendwas und irgendjemanden aufwärtszufahren, weil der Alkohol hilft oder betäubt oder stumpf macht. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Ich vermisse euch! Ich wollte nicht, dass euch etwas passiert.
Der Regen hat aufgehört. Weit oben der fast wolkenlose Abendhimmel. Ein kalter Wind bläst von den Gipfeln talabwärts, trocknet ihre Trikots, kühlt die Haut und das darunter liegende Fleisch. An eine Jacke hatte Steffen nicht gedacht, er wollte nur schnell den Pass runterfetzen, essen und dann zurückkehren ins Oberengadin, wo er sich einigermaßen sicher und geborgen fühlt. Hier unten ist das Tal eng und voller Schatten, die über die Straße kriechen, nach den Herzen der Fröhlichen greifen und kräftig zudrücken.
Darum treibt es die Leute schon seit Jahrhunderten hinauf an die Seen, ans Licht, das Rilke beschrieben und Segantini gemalt hat. Von der stickigen Hitze der Poebene suchten viele den Weg hinauf zum Licht, das die St. Moritzer und Silser Hotelpioniere zu reichen Leuten machte. Baron Camille de Renesse mit seinem Palace wollte alles bisher Gebotene in den Schatten stellen. Sein Maloja Palace sollte das größte und mondänste Hotel in den Alpen werden, gebaut für den gelangweilten Hochadel und die Industriellen, die ihren Reichtum unter die Leute bringen wollten.
Das Bergell diente damals und dient auch heute als Durchgangstal, als düsterer Gegenpart zur Weite der Oberengadiner Seenlandschaft. Findet jedenfalls Steffen. Greg scheint fasziniert zu sein von der Passstraße, vom engen Tal und den Dörfern voller Geschichte und von den Geschichten, die einfach so am Wegrand herumliegen. Steffens Assistent erzählt gerne, das ist auch bei der Arbeit so. Daneben kann man sich wirklich nicht konzentrieren. Karin hingegen scheint Gefallen zu finden am jugendlichen und humorvollen Greg, der sie oft zum Lachen bringt. Diese Schwatzhaftigkeit, das beschließt Steffen keuchend, wird er gleich morgen zum Gesprächsthema machen. Es wird Zeit, dass er durchgreift. Auch wird er das Bergell – wenn überhaupt – nur noch alleine befahren.
Jede Steigung geht einmal vorbei. Auch die Rampe oberhalb von Vicosoprano. Eine letzte weite Ebene vor dem Talabschluss. Vor dem Aufstieg Casaccia, der Ort, an dem zur Römerzeit die Straße über den Septimer abbog. Greg, das wandelnde Lexikon. Steffen ist froh, dass der andere neben ihm fährt und für Ablenkung sorgt, von einem Gaudenzio von Novara erzählt, der im vierten Jahrhundert das Christentum ins Tal brachte und von den undankbaren Heiden geköpft wurde. Jahreszahlen zum Bau der Wallfahrtskirche, die in der Reformation geplündert wurde und seither als Ruine oberhalb des Dorfes steht. Die Geschichten helfen ihm über die Krämpfe hinweg, die abwechslungsweise die Waden und die Oberschenkel befallen und die er bekämpft, indem er die Beine ganz durchstreckt. Kurz vor dem Ort trinkt er den letzten Rest Kräuterschnaps zur Stärkung, das muss für die restlichen 350 Höhenmeter reichen.
»Wir sehen uns oben«, ruft ihm Greg zu und nimmt die Straße hinter dem Dorf in Angriff.
Steffen versucht mitzuhalten. Vergeblich. Der Kopf bringt die Beine nicht mehr zum Drehen, sodass er Greg ziehen lassen muss. Morgen, denkt er, morgen im Büro ist die Situation eine andere, da mache ich dich so richtig zur Schnecke, kleiner Greg.
Denkt er und kämpft sich hinauf. Links oben das Gerippe der Kirche, von der Greg vorhin gesprochen hat. Hinter sich ein Keuchen. Ein weiterer Rennradfahrer, der die Schlusssteigung in Angriff nimmt, denkt Steffen und spannt die Muskeln etwas an, dich lasse ich nicht so schnell vorbei. Es gelingt ihm, das Keuchen in Schach zu halten. Was, denkt er, wenn das Greg ist? Vielleicht musste er austreten und ist jetzt hinter ihm. Oder er ist selber am Rand der Erschöpfung. Diese Vorstellung gefällt ihm. Mal schauen, was passiert, wenn er einen Zwischenspurt einlegt. Steffen geht aus dem Sattel und drückt die Kurbeln. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Habt ihr gesehen, wie ich das mache? Mit links, meine Lieben, mit links.
Einige Meter geht das so. Steffen voraus, doch das Keuchen bleibt an ihm dran. Dann der Hammer. Ein Wadenkrampf, den er nicht kontrollieren kann und der sein Bein völlig blockiert. Keine Möglichkeit, um zu reagieren. Eine Umdrehung noch, dann geht gar nichts mehr. Er versucht vergeblich, den Fuß vom Pedal zu lösen, und verliert das Gleichgewicht. Das Rad kippt samt Fahrer nach links, mit Hüfte und Schulter kracht er auf den Asphaltbelag. Der Schmerz zuckt heiß und hell durch seine Gelenke.
Als Steffen aufblickt, steht ein Mann neben ihm. Das Keuchen kommt vom Kopf, der aber nicht auf dem Hals sitzt. Den trägt der Mann locker unter dem Arm.
»Dumm gelaufen«, sagt der Kopf, als Steffen ächzend aufsteht und den Schaden an seinem Körper begutachtet wie die Karosserie eines beschädigten Fahrzeuges.
»Kann man sagen«, brummt er. »Scheißtag und Scheißtal!«
»Mich