Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser
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Erst hier erweist es sich, ob das, was als Hypothese aufgebaut wurde, auch tatsächlich zu einer substanziellen spirituellen Erfahrung führt. Zu einer spirituellen Erkenntnis, überdies, kommt es dann, wenn eine in diesem Sinn mehrfach gegliederte Hypothese nicht nur aufgestellt, innerlich belebt und modifiziert sowie der Erfahrung exponiert wird, sondern wenn sie auch in einem sich vollziehenden subtilen Erfahrungsprozess gegebenenfalls verworfen, zurückgedrängt, aufgelöst, aufgehoben, modifiziert und in dieser Weise »kohärent verformt« wurde. Diesen Prozess macht die spirituelle Erfahrung selber. Es zeigt sich. Hypothese ist, in der Konsequenz, für den Geistesforscher oder die Geistesforscherin sowohl ein Mittel, spirituelle Erfahrungen darzustellen, 115 als auch, sie einzuleiten und zu orientieren. Darstellungsfunktion und heuristische oder regulative Funktion der Hypothese erscheinen dabei wie zwei Seiten ein und derselben Sache. Regulative Hypothesen lösen sich in der Konsequenz auf; darstellende Hypothesen bilden sich in der Erfahrung neu. Hier liegt für einen Forscher in der historischen Situation Steiners die Bedeutung der theosophischen Literatur als Feld oder Steinbruch möglicher Hypothesen. Und hier zeigt sich nicht zuletzt die Funktion des Studiums als Ausgangspunkt eigenständiger Forschung.116
Sensible Behauptungen
Es versteht sich, dass in diesen komplexen Vermittlungsprozess des Bildens und Entbildens von Hypothesen mannigfache Irrtumsmöglichkeiten eingebunden sind. Jede Hypothese selber stellt immer die Kehrseite eines möglichen Irrtums dar. Sie kann im Prinzip jederzeit durch die Erfahrung korrigiert und durch die Reflexion modifiziert werden. Deshalb vergisst Steiner in unserem Kontext nicht zu sagen, »im Einzelnen können selbstverständlich die Behauptungen der … Geistesforscher die größten Irrtümer enthalten« (GA 35, 129). Der Anteil der Irrtums- und Deutungsmöglichkeiten in der spirituellen Methode Steiners ist bislang wenig erforscht.117 Der hypothetische, oft auch oberflächliche und vielfach zeitgebundene Charakter seiner Aussagen wird besonders dort gerne übersehen und falsch eingeschätzt, wo man ihnen den fragilen Modus von Forschungsaussagen, Hypothesen oder potenziellen Fragen nimmt und sie als nicht deutbare, unendlich überlegene, fraglos aufzunehmende Mitteilungen oder Angaben eines »Hellsehers« – oder, in anderer Perspektive eines obskuren Charismatikers – auffasst. Seine Aussagen werden auf diesem Weg nicht nur verdinglicht und verfestigt; es wird auch ihre didaktische Vermittlungs-, ihre künstlerische Darstellungsfunktion und damit ihre erfahrungsbezogene Vorläufigkeit vernachlässigt. Es ist eine Funktion, die sich in den behandelten Aspekten der Hypothese auf doppelte Weise zeigt: in ihrer Geltungsfunktion als Behauptung, die einen Wahrheitsanspruch erhebt, aber unvermeidlicherweise sensibel, potentiell irrtumsbehaftet und erfahrungsbezogen-vorläufig bleibt; und in jener Art von Behauptung, die in sich, wenn sie gut ist, die Sensibilität erzeugt für das, wovon sie redet. Hypothesen also sind sensible Behauptungen.
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