Verschwundene Reiche. Norman Davies
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Brügge war das Zentrum eines weit verzweigten Netzes. Für den sechs Wochen dauernden Pfingstmarkt verließen alle Ausländer Brügge … und begaben sich nach Antwerpen. Dort beherrschten sie den Handel mit teuren Stoffen wie Leinen und Samt und mit Gütern aus Übersee wie Gewürzen, Wein, Öl, tropischen Früchten, Zucker und Pelzen. Somit können wir uns Brügge an der Spitze der Pyramide vorstellen, Antwerpen an der zweiten Stelle und dazu Gent und Ypern als regionale Marktorte.
Seit dem 13. Jahrhundert hatten italienische Firmen den Herrschern der Niederlande Kredite gewährt … Herzog Philipp der Kühne unterhielt enge Beziehungen zu Dino Rapondi, einem Bankier aus Luca … Dino ließ sich in Flandern nieder und lieh dem Herzog und den Städten große Summen Geldes … Mit einem Wechsel über sechzigtausend Franc, einzulösen in Venedig, und einem umfangreichen Darlehen stellte Dino das Lösegeld für Johann Ohnefurcht bereit, der von den Türken 1396 gefangen genommen worden war.92
Die Herrscher des Hauses Burgund unterhielten keinen ständigen Hof. Ihr Heimatstandort war der »Palais de Duc« in Dijon, wo sie den Winter verbrachten, doch im Frühjahr begaben sie sich auf ihren jährlichen Zug; regelmäßige Anlaufstellen waren die alten Grafensitze in Hesdin im Artois und in Mechelen in der Nähe von Antwerpen. Zeitgenossen beschrieben immer wieder ihren Glanz und Prunk. Die Bezeichnung »burgundisch« ist zu einem Inbegriff für teure Kleidung, aufwändige Lebenshaltung und ausgelassenes Feiern geworden. Die Umzüge und Festspiele zum »Einzug« der Herrscher und ihrer Gäste wurden bewusst als politische Schauspiele inszeniert. Der burgundische Hof fühlte sich ausnahmslos allen seinen Nachbarn ebenbürtig:
Der König von Frankreich … reiste nach Troyes in der Champagne … Er wurde begleitet von seinem Onkel, dem Herzog von Bourbon, dem Herzog von Tourraine und vielen anderen Rittern … Bei seinem Einzug in Dijon wurde er von der Herzogin von Burgund mit hohem Respekt und Zuneigung empfangen, und alle, die gekommen waren, erwiesen ihm die Ehre. Große Volksbelustigungen wurden bei dieser Gelegenheit veranstaltet, und der König weilte acht Tage in Dijon.93
Die herrschenden Kreise Burgunds pflegten die Kunst und das Ritterethos mit beispielloser Leidenschaft. Im Jahr 1430 wurde der Ritterorden vom Goldenen Vlies gegründet, der dem englischen Hosenbandorden nachempfunden war. Mit seinen Ritualen und Zeremonien stellte er alle anderen Ritterorden in den Schatten. Das Ordensabzeichen, ein an einer Collane hängendes Widderfell, waren mit den Worten Pretium Laborum Non Vile (»Kein geringer Preis der Arbeit«) versehen.94 Dass ein nichtchristlicher Hintergrund für den Orden gewählt wurde, signalisierte nach außen ein gewisses Interesse an der Antike. Gleiches gilt für die Manuskripte und literarischen Werke wie Épopée troyenne (»Trojanisches Epos«), die die Bibliotheken der burgundischen Herrscher schmückten. William Caxton, der erste englische Buchdrucker, brachte 1473 ein Recuyell of the Histories of Troye heraus, das auf einem burgundischen Original beruhte.95
Die Malerei der flämischen Schule, ein zentraler Bestandteil der Renaissance in den Niederlanden, entwickelte sich mit burgundischer Unterstützung. Maler wie Robert Campin (um 1378–1444) und Jan van Eyck (um 1390–1441), die beide für den Grafen von Holland und Philipp den Kühnen arbeiteten, Roger van der Weyden (um 1400–1464) und Hans Memling (um 1430–1494), ein Deutscher, der sich in Brügge niederließ, trugen maßgeblich zur Verweltlichung der europäischen Kunst bei. Sie wandten sich aufgeschlossen neuen Genres zu, wie etwa Porträts, Stillleben, Alltagsszenen und Landschaften.96 Auch herausragende Bildhauer wurden gefördert. Der Niederländer Claus Sluter (um 1350–1405) wurde Hofbildhauer in Dijon. Sein bekanntestes erhalten gebliebenes Werk ist der Mosesbrunnen, der für die Grabkirche der Herzöge von Burgund im Kloster Champmol geschaffen wurde.97 Auch Tapisserien waren eine burgundische Spezialität. Die aufwändige Technik des Einwebens von Goldfäden in farbige textile Flächengebilde wurde in Arras erfunden. Im 15. Jahrhundert konnten die tapissiers große Wandteppiche anfertigen, die Schlachten, historische Szenen, Legenden und Landschaften darstellten.98
Neben der bildenden Kunst blühte auch die Musik. Die Burgundische Schule entstand in der Herzogskapelle in Dijon, wo man bereits um die Jahrhundertwende den »burgundischen Geist im Lied« hören konnte.99 In der Folge verbreitete sie sich geografisch und veränderte sich auch stilistisch. Guillaume Dufay (um 1397–1470) aus Brabant war vermutlich der berühmteste europäische Komponist in dieser Zeit. Die spätere französisch-flämische Schule brachte eine Vielzahl von Talenten im Umfeld des genialen Joskin van de Velde (um 1450–1520) hervor, der besser bekannt ist unter dem Namen Josquin des Prez und die Polyphonie zu ihrer Vollendung führte.100
Die Literatur der Renaissance befasste sich mit vielen Gebieten von der Dichtkunst bis zur Philosophie. Erasmus von Rotterdam (1466–1536), der bedeutendste Humanist seiner Zeit, war ein Burgunder.101 Neben Latein entwickelten sich die französische und die niederländische Sprache, und die Vermischung der beiden Sprachen wurde als »ein Dialog zwischen zwei Kulturen« bezeichnet. Burgund bildete auch den Hintergrund für eines der wichtigsten historiografischen Werke des 20. Jahrhunderts, Johan Huizingas Herbst des Mittelalters (1919). Der Kulturhistoriker Huizinga, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Leiden, entwickelte anhand einer detaillierten Analyse der Rituale, Kunstformen und Schauspiele am burgundischen Hof seine Theorie über den rohen und stark gefühlsbestimmten Charakter des Lebens im Spätmittelalter und widersprach damit der vorherrschenden Meinung, dass es eine von der Anmut der Renaissance, von Ästhetik und aufgeklärten Debatten bestimmte Zeit gewesen sei:
Als die Welt noch ein halbes Jahrhundert jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute. Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als für uns; was man erlebte, hatte noch jenen Grad von Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit, den die Freude und das Leid im Gemüt der Kinder heute noch besitzen. Jede Begebenheit, jede Tat war umringt von geprägten und ausdrucksvollen Formen, war eingestellt auf die Erhabenheit eines strengen, festen Lebensstils. Die großen Ereignisse: Geburt, Heirat, Sterben standen durch das Sakrament im Glanz des göttlichen Mysteriums. Aber auch geringere Geschehnisse, eine Reise, eine Arbeit, ein Besuch, waren von tausend Segnungen, Zeremonien, Sprüchen und Umgangsformen begleitet.102
Huizingas Werk war sehr einflussreich, doch es rief auch Ablehnung unter manchen seiner holländischen Kollegen hervor und Befremden bei seinem belgischen Freund Henri Pirenne.103
Trotz ihres außergewöhnlichen kulturellen Engagements stand die Politik für die burgundischen Herzöge im Vordergrund. Burgund tat sich sowohl durch seine Bemühungen zur Schaffung eines integrierten Staatswesens als auch durch seine höchst geschickte Diplomatie hervor. Zwar wurden Aufmüpfigkeiten gewaltsam unterdrückt, doch die Eigenheiten der verschiedenen Teilgebiete des Reiches wurden respektiert; die Herrschaftspraxis beruhte auf etablierten Verfahren und dem Bemühen um Konsens. In einem typischen Erlass vom 13. Dezember 1385 erfuhr die Stadt Gent sowohl die harte Hand ihres Herrschers als auch seinen Großmut:
Philipp I. von Frankreich, Herzog von Burgund, Graf von Flandern und Artois, Pfalzgraf von Burgund … tut es allen kund: unseren vielgeliebten Untertanen in unserer schönen Stadt Gent, die uns inständig angefleht haben, ihnen Gnade angedeihen zu lassen, dass [Wir] alle Übertretungen und Unbotmäßigkeiten verziehen haben … und dass [Wir] alle genannten Gebräuche, Privilegien und Rechte bekräftigen, sofern sie in vollem Umfange [Uns] gegenüber Gehorsam üben.104
Die burgundischen Herzöge nutzten ähnlich wie die englischen Monarchen ihre vielfach verschlungenen Verwandtschaftsverhältnisse, um ihren Anspruch zu untermauern, dass sie die wahren Könige Frankreichs seien, und insbesondere Philipp der Kühne beschäftigte sich eingehend mit