Verschwundene Reiche. Norman Davies
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Verschwundene Reiche - Norman Davies страница 45
III
Sucht man nach Informationen, geht man heutzutage mit dem Computer ins Internet. Dort ruft man Suchmaschinen wie Webcrawler, Yahoo, Google oder Baidu auf, tippt ein Schlüsselwort ein, klickt einmal mit der Maus, und im Handumdrehen erscheinen unzählige »Treffer«. Nach Meinung von Traditionalisten, die noch auf herkömmliche Rechercheverfahren setzen, bringt die neue Technik aber häufig unbrauchbare Ergebnisse.
Im Falle von »Burgund« ergab eine Suche bei Google (im Februar 2009) rund 23,9 Millionen Einträge. Die Liste wurde verlängert durch die Option, den Schlüsselbegriff oder die Schlüsselbegriffe definieren zu lassen. Der Klick auf »Definition«, der von der Seite »answers.com« bereitgestellt wurde, erbrachte Folgendes:
Burgund Eine historische Region und frühere Provinz im Osten Frankreichs. In dieser Region wurde erstmals im 5. Jahrhundert von den Burgundern, einem germanischen Volk, ein Königreich begründet. Auf dem Höhepunkt seiner Macht im 14. und 15. Jahrhundert beherrschte es große Gebiete in den heutigen Niederlanden, in Belgien und Nordostfrankreich. Im Jahr 1477 wurde es durch Ludwig XI. in die französischen Kronlande eingegliedert.124
Man möchte ja nicht unnötig pedantisch sein, doch wer nach genauen Informationen sucht, sei gewarnt: Jeder Satz in der vorstehenden Definition enthält falsche oder irreführende Behauptungen. So liegt beispielsweise das Gebiet, in dem die Burgunder erstmals ein Königreich errichteten, nicht in Ostfrankreich.
Doch man sollte mit den Autoren von »answers.com« auch nicht zu hart ins Gericht gehen. Wenn es insgesamt 15 burgundische Reiche gegeben hat, dann haben sie drei erfasst, also 20 Prozent, was bei näherer Betrachtung gar nicht so übel ist. Dazu kommt, dass ihre fehlerhaften Informationen aus glaubwürdigen Quellen stammen. The Britannia Concise Encyclopedia, auf die sich »answers.com« stützt, definiert Burgund als eine »historische und administrative Region, Frankreich«. In der Wikipedia-Enzyklopädie ist die Rede von einer »historischen Region im heutigen Frankreich und der Schweiz die im 4. Jahrhundert von den Römern … den Burgunder zugewiesen wurde, die dort ihr eigenes Königreich errichteten«.125
Die Unterschiede zwischen diesen Definitionen sind augenfällig. Gemeinsam ist ihnen aber der Aspekt der Unbeweglichkeit: Sie versuchen beide, den Begriff Burgund fest mit einem bestimmten Gebiet zu verknüpfen. Keine erfasst das wesentliche Merkmal, nämlich dass der Name Burgund im Laufe der Geschichte eine komplexe Wanderung vollzogen hat.
Studenten werden häufig davor gewarnt, sich Informationen aus dem Internet zu beschaffen. Als besonders suspekt gilt Wikipedia, die in Gemeinschaftsarbeit erstellte freie Online-Enzyklopädie. »Wie kann man hier die Angaben überprüfen?«, lautete eine häufig gestellte Frage. »Die Leute können doch schreiben, was ihnen gerade einfällt.« Derartige Befürchtungen sind zweifellos nicht unbegründet. Doch damit geht meist die Annahme einher, dass die traditionellen, gedruckten Nachschlagewerke, »die anerkannten Autoritäten«, von vornherein verlässlicher und vertrauenswürdiger seien. Eine Probe aufs Exempel liefert ein Vergleich von Internetseiten mit den herkömmlicheren, akademischen Produkten.
Burgund ist zweifellos ein komplexer Begriff. Er ist mit einer Vielzahl unterschiedlicher Bezüge und Assoziationen verbunden. Im Englischen beispielsweise hat er zwei Bedeutungen: Er bezeichnet einen Ort und ein Produkt. Im Shorter Oxford English Dictionary (SOED) wird der Ort definiert als »1. Ein Königreich und später ein Herzogtum im Heiligen Römischen Reich, nach dem anschließend eine französische Provinz benannt wurde«. Das Produkt ist »2. Ein Wein, der in Burgund erzeugt wird«. Natürlich kann man von Engländern nicht erwarten, dass sie sich in Angelegenheiten des europäischen Kontinents besonders gut auskennen, und es ist daher nicht völlig überraschend, dass auch der Eintrag im SOED Fehler enthält. Überraschend ist allerdings, dass eine fehlerhafte Wortstellung die Zusammenhänge unnötig verwirrt. Hätte der Eintrag gelautet »1. Ein Königreich im weströmischen Reich und später ein Herzogtum …«, wäre er korrekt, wenn auch unvollständig gewesen. Doch so wie er formuliert ist, ist er sowohl ungenau als auch unvollständig. Und was den Wein betrifft, so dürften Weinkenner wohl vom Grausen gepackt werden bei der Vorstellung, dass jedem angejahrten Fusel aus dieser Region das Qualitätssiegel »Appellation d’Origine Contrôlee«, die kontrollierte Herkunftsbezeichnung, zustünde (Trefferquote 1:15).126
Im ausführlichen Oxford English Dictionary (OED) werden die oben genannten Definitionen wiederholt und weitere hinzugefügt:
– »rote Farbe des Burgunderweins«
– »Kopfbedeckung für Frauen = BOURGOIGNE (veraltet)«
– »Burgunder-Heu«: Bezeichnung britischer Autoren für die Luzerne (Medicago sativa), im Französischen aber ursprünglich Sainfoin (Onobrychis sativa) (die beiden Bezeichnungen wurden früher gleichbedeutend verwendet)
– »Burgundische Mischung, ein Präparat aus Soda und Kupfersulfat, das zum Besprühen von Kartoffelpflanzen verwendet wird«
Unter »Burgunder« wird zuerst »zu Burgund gehörend« (adj.) und »Bewohner von Burgund« aufgeführt, dann erwähnt das OED seltsamerweise »eine der teutonischen Nationen Burgunds« und »2. (in der Form von Burgonian) ein Schiffstyp … der in den burgundischen Landen gebaut wurde, zu denen im 15. Jahrhundert auch die Niederlande gehörten.« Die »teutonische Nation Burgunds« ist eine begriffliche Verballhornung, aber zumindest die geografische Verortung ist nicht frankozentrisch.127
Webster’s American Dictionary gibt sich minimalistisch. Es bietet eine »Region in Frankreich« an, einen »verschnittenen Rotwein, der in anderen Regionen (wie etwa Kalifornien) erzeugt wird« und »eine rötliche Farbe«. Dies suggeriert, dass ein kalifornischer Burgunder das einzig Wahre sei, ein Burgunder aus Burgund dagegen eher von geringerer Qualität.
Man könnte annehmen, dass die Franzosen selbst besser informiert sind. Das Littré gehört zu den älteren französischen Enzyklopädien: »BOURGOGNE, s.m vin de Bourgogne. E de Burgundi, nom d’un peuple germain, s.f nom vulgaire du sanfoin.« Die Definitionen sind dürftig: ein Wein, ein Staat, ein Volk und eine Pflanzenart, genau wie im Oxford English Dictionary. Doch dann folgen noch die Kopfbedeckung, die Provinz und, völlig unüblich, »ein abgebrochenes Stück einer Packeisscholle«: nom donné par les marins aux morceaux de glace détachée de la banquaise«. Diese Eisschollen hat aber sonst noch niemand zu Gesicht bekommen.
Als Nächstes kommt der Robert, und abermals ist die Ausbeute enttäuschend. Wie im Littré ist Burgund auch hier nicht mehr als eine Provinz. Und trotz der Auflistung von Grand Crus gibt es keinen Hinweis auf die AOC.
Daher greift man zu Imbs und seinem Trésor de la langue française (»Schatz der französischen Sprache«). Auch dieses Werk ist nicht ergiebiger. Burgund ist immer noch lediglich eine Provinz (Trefferquote 1:15). Doch es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für die alten Burgunder (Burgondes) und die gegenwärtigen (Bourguignons). Dennoch muss man feststellen: Definitionen in Nachschlagewerken sind in hohem Maße unzureichend, vor allem wenn es um historische Fragen geht.
Enzyklopädien sind eine sehr breitgefächerte Kategorie. The New Encyclopedia Britannica (1974) kann sich auf die überragende Encyclopedia Britannica (11. Auflage, 1911) stützen. Sie enttäuscht den Suchenden nicht. Nachdem sie die alten Burgunder als »Skandinavier« beschreibt, stellt