Verschwundene Reiche. Norman Davies

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Verschwundene Reiche - Norman Davies

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wird zumindest angedeutet. Es fehlen nur der Reichskreis, ein Herzogtum, eine Landgrafschaft und die Provinz (Trefferquote 11:15).

      Der Nouveau Petit Larousse, ein allgemein bekanntes Werk in Frankreich, beginnt mit einer unbefriedigenden Definition: Burgund, »eine Region in Ostfrankreich, die mehr eine historische als eine geografische Einheit darstellt«. Doch der nachfolgende Artikel umfasst sechs Königreiche, dazu die Freigrafschaft, das Herzogtum, die »Staaten von Burgund« und die Provinz. Aber auch hier kein Reichskreis. Der Text schließt mit den Worten: »Burgund gehörte lange Zeit zu Deutschland. Die französischen Könige lösten es im Laufe der Jahrhunderte allmählich aus dieser Verbindung.« Wer hätte das gedacht: Der Larousse ist nicht frankozentriert.128

      Entscheidend ist der internationale Aspekt des Problems, denn die burgundische Frage überschreitet nationale Grenzen. Idealerweise sollte man daher nicht nur Nachschlagewerke aus Frankreich, sondern auch aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden und der Schweiz heranziehen. Jede dieser Quellen würde in einigen Punkten aussagekräftiger sein als in anderen.

      Wir haben beispielsweise einen deutschen Brockhaus zur Hand. Der Eintrag ist angemessen lang und ausführlich. Er unterscheidet zwischen dem Burgund der Gegenwart, das als »eine Region, die aus fünf Departements besteht«, definiert wird, und fünf burgundischen Reichen der Vergangenheit: dem Königreich der Burgunder ab 443, dem Burgund der Franken ab 534, dem Königreich Burgund (Arelat), dem Herzogtum Burgund und der Freigrafschaft Burgund (Franche-Comté). Bei der Erklärung der Entstehung von Arelat führt der Brockhaus auch das »Königreich Niederburgund« auf. Überraschenderweise fehlt aber auch hier der Reichskreis.129

      Auf der Suche nach einer unparteiischen Sichtweise wenden wir uns einem Land zu, das keine direkte Beziehung zu Burgund hatte. Wir haben eine alte Ausgabe der Wielka Encyklopedia Powszechna PWN zur Verfügung. Daraus ergibt sich, dass die Polen nach wie vor die lateinische Form des Namens (Burgundia) verwenden. Die Enzyklopädie beschreibt Burgund als »ein historisches Gebiet (kraina historyczna) in Ostfrankreich« und als »eine bedeutende Weinbauregion«. Doch die ausführliche historische Darstellung weist auch einige Mängel auf. Man begegnet dem »Königreich der germanischen Burgunder aus dem 5. Jahrhundert«, den Königreichen Hochburgund, Niederburgund und Arelat und einem ab 1032 existierenden »Königreich innerhalb des deutschen Reiches«. Dass fünf von sieben möglichen Reichen erwähnt werden, ist eine gute Trefferquote. »Der Name Burgund«, fährt das Lexikon fort, »blieb nur in der Freigrafschaft (Franche-Comté) erhalten, die bis 1382 zu Deutschland gehörte«. Diese Aussage ist ungenau, doch die allgemeine Darstellung entspricht den Tatsachen. »Die große Blütezeit des Herzogtums begann unter der Herrschaft von Filip Smialy (Philipp dem Kühnen)«, heißt es. Und wie in vielen anderen Nachschlagewerken endet die Darstellung nicht mit dem letzten Herzog und Grafen aus dem Hause Valois. »Nach dem Tod von Karl dem Kühnen 1477 heiratete Marie, seine Alleinerbin, Erzherzog Maximilian von Österreich, worauf eine erneute Teilung Burgunds folgte. Frankreich erhielt das Herzogtum B. zurück sowie die Picardie. Die Habsburger behielten die Niederlande sowie Franche-Comté, das schließlich 1678 an Frankreich zurückfiel130 (Trefferquote 9:15). Noch immer kein Reichskreis.

      Wer nicht Französisch, Deutsch oder Polnisch beherrscht, muss seine Hoffnungen in das vor kurzem erschienene Werk Gazetteer of the World setzen, das von einer angesehenen amerikanischen Institution herausgegeben wurde. Sein Schwerpunkt liegt auf der Beschreibung geografischer Orte und historischer Territorien: »Burgund (BUHR-ghun-dee), fr. Bourgogne (BOORGON-yuh), historische Region und frühere Provinz in Zentral- und Ostfrankreich. Der Name leitet sich ab von zwei alten Königreichen und einem Herzogtum, die ein wesentlich größeres Gebiet umfassten als die Provinz im 17. und 18. Jahrhundert. Nach 1790 wurde B. in Departements aufgeteilt. Heute bildet es eine Verwaltungsregion Frankreichs.« So weit, so gut. Doch dann schleichen sich Anachronismen ein: »Von Cäsar in den Gallischen Kriegen erobert, wurde es später (im 5. Jh. n. Chr.) von den Burgunder besiedelt, einem deutschen Stamm, der das erste Königreich Burgund errichtete.« Zeiten und Orten werden falsch zugeordnet, und dann folgen zahlreiche weitere Missverständnisse:

      Nachdem es während der Merowinger- und Kapetinger-Herrschaft geteilt gewesen war, wurde es (933) wiedervereinigt zum zweiten Königreich, welches das Cisjuranische Burgund (bereits Provence genannt) im Süden und das Transjuranische Burgund im Norden umfasste. Kurze Zeit später wurde durch Kaiser Karl II. ein kleineres Herzogtum Burgund geschaffen, das (1034) im Heiligen Römischen Reich aufging. Das Herzogtum erlebte sein goldenes Zeitalter unter Philipp dem Guten und umfasste die heutigen Niederlande und Belgien sowie Nord- und Ostfrankreich.

      Der Ausdruck »kurze Zeit später« zeigt, dass sich die Verfasser verzweifelt bemühen, aus dem Sumpf herauszukommen. In der Chronologie herrscht ein ziemliches Durcheinander, die Namen sind verkehrt, und dass das Herzogtum im Heiligen Römischen Reich aufgegangen wäre, ist reine Einbildung. Doch im letzten Abschnitt gewinnen die Tatsachen doch wieder die Oberhand:

      Im 15. Jahrhundert war Burgund … ein Zentrum der Kunst, das das übrige Europa überstrahlte. Doch die Kriege des ehrgeizigen Karls des Kühnen erwiesen sich als ruinös. … Seine Tochter, Maria von Burgund, führte durch ihre Heirat mit Kaiser Maximilian den Großteil des erweiterten Burgund (nicht aber das französische Herzogtum) mit dem Haus Habsburg zusammen. Das Herzogtum wurde von Ludwig XI. annektiert, der es zu einer französischen Provinz machte … Durch Burgund führen heute die wichtigsten Verkehrsverbindungen zwischen Paris, Lyon und Marseille.131

      (Trefferquote: schwer zu berechnen)

      Was soll man also tun, wenn man Informationen sucht? Insgesamt betrachtet, sind die »anerkannten Autoritäten« nicht weniger unvollkommen als alle anderen Quellen. Wie jede Bibliothek enthält das Internet Werke von unterschiedlicher Qualität. Wie alle Quellen muss es mit einem wachen kritischen Auge genutzt werden, aber es ist nicht von vornherein schlechter als die anderen. Untersuchungen haben ergeben, dass es Wikipedia trotz aller seiner Schwächen durchaus mit dem meisten bekannten akademischen Namen aufnehmen kann. Es hat den Vorteil, dass es ständig korrigiert und auf den neuesten Stand gebracht wird.132

      Die Suche lässt sich endlos weiterführen. Der Unermüdliche wird vielleicht die von vielen verschiedenen Autoren verfassten historischen Sammelwerke heranziehen, die häufig auch als Nachschlagewerke empfohlen werden. Bedauerlicherweise beginnt das entsprechende Kapitel beispielsweise in der großen New Cambridge Medieval History nicht sehr vielversprechend. »Die Region, die als Burgund bezeichnet wird«, heißt es hier, »besaß die beweglichste Grenze aller französischen Regionen.« Abermals wird Burgund nur in seiner begrenzten französischen Form wahrgenommen. Mediävisten sollten doch etwas mehr Sorgfalt walten lassen.133

      Andere versuchen vielleicht ihr Glück mit alten Büchern mit romantisch klingenden Titeln. The Lost Kingdom of Burgundy beispielsweise, das zwischen Fakten und Fiktion hin und her schwankt, beginnt mit einer blumigen Eröffnung. »In einer Nacht wie dieser«, raunt der erste Satz geheimnisvoll, »ritt Karl von Burgund in den Tod. Er verlor sein Reich, weil er es nicht wagte, eine schöne Frau zu retten.« Einige Seiten später wird es noch schlimmer: »Das Königreich lebt weiter, weil seine unterschiedlichen Könige, heruntergekommenen Krieger, Gitarre spielenden Haudegen und Keulen schwingenden Chorknaben sich weigerten, in ihren modrigen Gräbern zu verharren.« Auf Seite 8 stößt man schließlich auf einen Satz, der alles andere verzeihen lässt: »Das alte Burgund war und ist etwas ganz anderes als das Frankreich, das es geschluckt hat – eine Art von Atlantis, das von Wogen immer neuer Völker verschlungen wurde.« Dieser Autor verfügte über die unschätzbare Fähigkeit zur anteilnehmenden Sympathie, die den wesentlich renommierteren Sammel- und Nachschlagewerken abgeht. Und er brachte einen weiteren großartigen Satz hervor: »Das Mondlicht«, so schrieb er, »ist der beste Wiedererschaffer verschwundener Reiche.«134

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