Verschwundene Reiche. Norman Davies

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Verschwundene Reiche - Norman Davies

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Wanderung gelöst hatten.

      Alarichs Heldentaten brachen den Bann, durch den sich andere barbarische Häuptlinge hatten zurückhalten lassen. Wie ein byzantinischer Kommentator bemerkte, wurde das Reich nicht durch »Flüsse, Lagunen oder Wälle« geschützt, »sondern durch Angst« – und Angst ist »ein Hindernis, das kein Mensch je überwunden hat, solange er von seiner Unterlegenheit überzeugt war«.5 Dank Alarich verloren die Barbaren das Gefühl, unterlegen zu sein.

      Die spektakulären Riten zu Alarichs Bestattung provozierten Kommentare bei den Zeitgenossen und regen moderne Historiker und Ethnologen zu vielen Spekulationen an:

      Ihre Wildlieit offenbarten die Barbaren beim Leichenbegängnis eines Helden, dessen Mut und Glück sie mit trauervollen Lobpreisungen feierten. Sie zwangen ihre Gefangenen zur Umleitung des Flüsschens Busentinus, das die Mauern von Consentia bespült. Das mit den prächtigen Beutestücken und Trophäen Roms geschmückte Königsgrab wurde im leeren Fluss angelegt, das Wasser anschließend wieder in sein natürliches Bett zurückgelassen und der geheime Ort, an dem Alarichs Gebeine ruhen, durch die grausame Abschlachtung der Gefangenen, die das Werk ausgeführt hatten, für immer verborgen.6

      Allerdings erreichte »der Herrscher aller« trotz seines unglaublichen Ansehens keines seiner langfristigen Ziele. Er war der ewige Wanderer, der ständig die Gefolgschaft wechselte. Mal war er Roms Verbündeter, mal Roms Feind, mal Roms Zerstörer, mal ein anerkannter Schutzherr des Kaisers und mal der Partner eines Usurpators gewesen.7

      Zu Alarichs Zeit wurde das Westreich von barbarischen Horden überschwemmt, die aus allen Richtungen über die Reichsgrenzen hinwegzogen. Britannien konnte dem Ansturm von Pikten aus dem Norden, Schotten aus Hibernien und germanischen Plünderern, die »die sächsische Küste« im Südosten belagerten, nicht mehr standhalten. Das römische Gallien lag im Bann der »Horde der Horden«, die den gefrorenen Rhein im Winter 406/07 überquerte. Kriegerische Rotten der Vandalen, Alanen und Sueben plünderten Aquitanien im Süden und drängten über das Gebirge auf die Iberische Halbinsel. Weitere Horden, darunter die Hunnen, standen schon bereit, um dem Weg der Westgoten durch die Donauprovinzen zu folgen.

      Alarichs Nachfolger als Anführer der Westgoten schloss deshalb einen Handel mit dem Römischen Reich. Athaulf – der »edle Wolf« – erklärte sich bereit, Italien zu verlassen und seine barbarischen Verwandten aus Gallien und Spanien zu vertreiben. Seine einzige Bedingung war, dass er wieder den Status des kaiserlichen foederatus oder »Verbündeten« erhielt, den Alarich einst innehatte. In der Fassung eines Zeitgenossen, des Historikers Paulus Orosius, ist Athaulfs »Erklärung« eine interessante Lektüre:

      »Im vollen Vertrauen auf Tapferkeit und Sieg«, sagte Athaulf, »trachtete ich einst danach, das Antlitz der Welt zu verändern, Roms Namen auszutilgen, auf seinen Trümmern die Herrschaft der Goten zu errichten und mir, gleich Augustus, den unsterblichen Ruhm des Gründers eines neuen Reiches zu erwerben. Wiederholte Erfahrung lehrte mich allmählich, dass … Gesetze wesenüich notwendig sind und dass dem wilden und unbezähmbaren Gemüt der Goten das heilsame Joch der Gesetze und der Zivilregierung unerträglich war … nunmehr hege ich den aufrichtigen Wunsch, die Dankbarkeit kommender Geschlechter möge das Verdienst eines Fremden anerkennen, der sich des Schwertes der Goten nicht bediente, um das Glück des Römischen Reiches zu zerstören, sondern um es wiederherzustellen und zu erhalten.«8

      Das Jahrzehnt nach Alarichs Tod war voller gewalttätiger Konflikte nicht nur zwischen den Westgoten und ihren Rivalen, sondern auch unter den führenden westgotischen Familien. Athaulf führte sein Volk von Italien nach Südgallien und Spanien, wo sie die Vandalen, Sueben und Alanen angriffen. Gleichzeitig entzündete sich eine schwelende Fehde zwischen Alarichs Dynastie und den rivalisierenden Amalfingern neu. Athaulf, der mit der gefangenen Galla Placidia verheiratet war, wurde 415 in seinem Palast in Barcelona ermordet, zusammen mit ihren gemeinsamen Kindern. Ebenso erging es seinem direkten Nachfolger Sigerich, dem »König für fünf Tage«. Der Mann, der dann an die Spitze kam, ein kühner Krieger und raffinerter Diplomat namens Wallia, gilt manchen als ein illegitimer Sohn Alarichs. Es war Wallia, der den entscheidenden Vertrag aushandelte, in dem die Westgoten ihren Status als kaiserliche Verbündete bestätigt und dauerhafte Wohnsitze im römischen Aquitanien zugewiesen bekamen.

      Das »Tolosanische Reich« trat demnach als ein abhängiger, aber autonomer kaiserlicher Regionalstaat ins Leben. Es umfasste einen von drei Teilen Galliens und wurde von Stammeshäuptlingen regiert, die unter der kaiserlichen hospitalitas standen. Auf der Grundlage eines Dekrets des Kaisers Honorius nahmen die Westgoten im Jahr 418 ihre neue Hauptstadt Palladia Tolosa (das heutige Toulouse) in Besitz. Nach Wallia wurden sie für den Rest des Jahrhunderts von fünf Königen regiert: Theoderich I., Thorismund, Theoderich II., Eurich und Alarich II. Theoderich I. und Alarich II. fielen im Kampf. Thorismund und Theoderich II. wurden ermordet. Eurich, der jüngere Bruder Thorismunds und des zweiten Theoderichs, führte das Reich auf den Gipfel seines Reichtums und seiner Macht.9

      Allem Anschein nach übernahmen die Westgoten die Herrschaft in Aquitanien nach einer langen Zeit der Unruhe, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen. Der gallo-römische Adel, der sich einst einem rebellischen gallischen Sonderreich angeschlossen hatte, war nicht gerade für seine Fügsamkeit bekannt. Doch die neuen Herren waren eifrige Nachahmer römischer Ideale, und es gab keine Auflehnung gegen ihre Regierung der harten Hand. Die westgotischen Könige nahmen gern Geiseln und bestraften ungehorsame Untertanen, aber sie schwelgten nicht in sinnloser Gewalt. Römer traten in ihren Dienst, vor allem der General Nepotanius, der Admiral Namatius aus Saintes und Victorius, der dux super septem civitates, oder »Gebieter über Septimanien«.10 Die Westgoten erließen keine eigenen Gesetze für die Gallorömer, was auf eine Bereitschaft zur Assimilation schließen lässt; eine neue Einteilung des Landbesitzes ging nicht mit größeren Konfiszierungen einher; und in religiösen Dingen entwickelten sich die arianischen Praktiken des westgotischen Klerus parallel zum gut etablierten Netzwerk römischer Bistümer und Landkirchen. Die Tatsache, dass die Synode von Agde im Jahr 506 auf westgotischem Territorium stattfand, lässt vermuten, dass die Nichtarianer keine Angst um ihre Sicherheit hatten.11

      Der römischen Stadt Tolosa (Toulouse), auf einer Ebene unterhalb einer alten keltischen Bergfestung entstanden, hatte Kaiser Domitian zu Ehren der Göttin Pallas Athene, der Schutzpatronin der Künste, den Beinamen Palladia verliehen. Umgeben von einer alten augusteischen Stadtmauer war sie mit Aquädukten, Theatern, Bädern und einem aufwändigen Abwassersystem ausgestattet und lag an der strategisch wichtigen Via Aquitania, die durch Südgallien vom Mittelmeer zum Atlantik führte. Seit dem 4. Jahrhundert war sie ein aktives Zentrum des Christentums im Reich und Bischofssitz. Der hl. Saturninus, einer der ersten Apostel Galliens, war um 257 in Tolosa den Märtyrertod gestorben – er wurde von einem wilden Stier durch die Straßen geschleift. Die Basilika, die seine Reliquien hütete, bildete den Mittelpunkt der Gottesverehrung nach dem vom Konzil von Nizäa definierten Glaubensbekenntnis. Die Hauptkirche der Arianer war die in der Mitte des 5. Jahrhunderts über einem früheren Apollo-Tempel errichtete Nostra Domina Daurata.

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