Der Verdrüssliche. Eva Holzmair

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Der Verdrüssliche - Eva Holzmair

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      - Mama, vergiss nicht, die Lehrerin!

      - Nein, ich vergess nicht. Um neun, während der Turnstunde.

      War das sein erster Gedanke beim Aufwachen? Das Gespräch mit der Lehrerin? Traut er es ihr nicht zu? Wie Paul? Die Lehrerin. Wie heißt sie doch gleich? Mil…, Mik…, Miklas, nein Miklos! Ja, Irene Miklos. Mit dem Namen kommen aber keine Erinnerungen hoch. Gitta hat die Frau noch nie gesehen. Sie stellt sich eine dickliche Mittvierzigerin mit dunklem Haar und Brille vor. Eher klein. Ja, klein, rundlich, mütterlich. Zumindest wünscht sie das ihrem Bernhard. Zum Ausgleich.

      Während der Bub seinen Kakao schlürft, wäscht Gitta einen Apfel und richtet ein Doppeldeckerbrot, wie Bernhard es nennt, für die Schuljause her. Sie hat Mühe, das Essen im Rucksack zu verstauen, muss zuerst Hefte und Bücher schlichten, zusammengeknülltes Stanniolpapier, verklebte Plastiksackerl und eine Bananenschale entfernen. Nun fällt Bernhard ein, dass er seinen Turnbeutel vergessen hat.

      - Lass nur, ich hol ihn. Iss du dein Frühstück fertig.

      Task Nummer zwei, das morgendliche Bernhard-Programm. Da darf sie nichts auslassen. Als Gitta zurückkommt, ist Bernhard bereits im Vorzimmer und schließt die Klettverschlüsse seiner Schuhe. Gerade rechtzeitig bemerkt sie, dass er mit dem Turnbeutel in der Hand, aber ohne Schulrucksack auf dem Rücken losziehen will.

      - Du Traummännlein.

      Sie hilft ihm, in die Schulterriemen zu schlüpfen. Endlich fällt die Tür ins Schloss. Sie hört Bernhard die Treppe hinunterhüpfen und schaut auf die Uhr: zehn vor acht. Ein Rekord. Wenigstens pünktlich wird er heute sein. Es sei denn, er trifft Georg. Dann müssen sie unbedingt die geparkten Autos vergleichen und davon träumen, welches davon sie wohl als Erwachsene besitzen werden.

      Noch einmal prüft Gitta ihre Augen. Die Schwellung ist zurückgegangen, allerdings rot sind sie immer noch. Egal, sie muss sich anziehen, darf keinesfalls im Schlafrock herumsitzen. Das wäre ein schlechtes Zeichen. Aber sie hat ja bereits die ersten Aufgaben erledigt, ist aufgestanden, hat das Frühstück gemacht, selbst ein paar Bissen gegessen. Nein, stimmt nicht, die Tablette, die hat sie genommen. Rasch trinkt sie etwas Orangensaft und stopft den Rest Butterbrot, den Bernhard auf seinem Teller liegen gelassen hat, in den Mund.

      Nun duschen, hübsch machen, nicht irgendwie aus dem Haus gehen. Sie hat eine Verabredung mit Frau Miklos. Und mit Paul. Würde er merken, wenn sie eine ihrer Aufgaben nicht oder unzureichend erfüllt, etwa nur die linke Körperhälfte duscht? Der Versuch misslingt. Viel zu stark der Wasserstrahl, der aus dem großen Brausekopf schießt. Gitta lacht ins Badetuch. Keine halben Sachen. Her mit der Ausgehuniform!

      Vorm Spiegel dreht sie sich um die eigene Achse. Der schwarze Pulli und die enge Hose stehen ihr gut. Allein die roten Augen stören. Hoffentlich glaubt die Lehrerin nicht, sie habe geweint. Was weiß diese Frau über sie? Was hat Paul erzählt, was verschwiegen? Egal. Nicht aufregen! Sie erledigt nur ihre Tasks. Gestern hat sie Bernhard abgeholt, heute marschiert sie zur Lehrerin. Ja, doch. Warum nicht?

      Aber bis dahin ist noch etwas Zeit. Gitta geht ins Atelierzimmer und betrachtet die Bilder, die der windige Galerist ausgesucht hat. Jedes mit GH monogrammiert. Ihr Zeichen! Zumindest eines davon müsste einen Abnehmer finden. Auf der Staffelei ihr aktuelles Werk. Gerade begonnen. Sie betrachtet die Umrisse des Kopfes. Ob sie den Verdrüsslichen je fertigmalen wird? Kritisch studiert sie das in Ansätzen vorhandene Porträt. Keine arrangierten Stoffe, Schalen, Schüsseln, keine vertrockneten Blumen, keine kunstvoll angeschälten Zitronen. Nichts als das Abbild einer Kopie, unter Bitten und Betteln aus Pauls Heiligtum geholt. Dass mir der Kopf nicht zu Bruch geht! Auch wenn er bloß nachgemacht ist, ist er was wert! Altenberg, Hofmannsthal und Zeitgenossen haben solche Imitate gesammelt. Gitta inspiziert das verkniffene Gesicht, die geschlossenen Augen, die herabgezogenen Mundwinkel. Seit ihrer Studienzeit hat sie nicht mehr nach einer Plastik gemalt. Ansonsten doktert sie ewig an der Anordnung ihrer Stillleben herum, knüllt Stoffe oder Folien so zurecht, dass sie die gewünschte Wirkung erzielen, tauscht bereits verfaultes gegen frisches Obst aus, sucht lange auf dem Naschmarkt, um die passenden exotischen oder bizarr geformten Früchte ausfindig zu machen. Es sind bewusst gewählte Sujets, die sie beruhigen und ihr gleichzeitig Kraft geben. Doch Porträts? Noch dazu ein so rätselhaftes? Irgendetwas an dem Kopf fasziniert sie, spricht sie unmittelbar an: die zarte Nase, die Schläfenlocken, das Haar im Nacken, so heutig der Schnitt. Viele der anderen Charakterköpfe Messerschmidts stoßen sie ab, dieser nicht. Weil sie ihn kennt? Weil der echte Verdrüssliche ihr einst geholfen hat? Weil seine Kopie zur Wohnung gehört? Zu Paul? Zu Pauls Zimmer mit den ererbten Antiquitäten? Nicht alle sind dort, einige leihweise der Familienstiftung überlassen, andere weiterverkauft. In diesem Business bist du ein Dilettant, ein schlechter noch dazu. Ein weiteres Urteil ihres Schwiegervaters, an Paul gerichtet, nicht an sie, und im Familienkreis ausgesprochen. Keine sonstigen Zuhörer. Vernichtend war es trotzdem. Was für eine Anmaßung! Gut, dass dieser Mensch tot ist. Gitta will nicht an ihn denken. Rasch schlüpft sie in ihre alte Lederjacke und eilt zur Schule.

      Als sie das Schultor öffnet, erschrickt Gitta. Im Eingangsbereich eine Frau, die aussieht wie die Lehrerin in Gittas Vorstellung. Ist das ein Trugbild? Gitta blinzelt. Nein, vor ihr steht die kleine, rundliche Frau Miklos, schüttelt Gitta die Hand und führt sie in ein Zimmer in den ersten Stock. Sie muss der Lehrerin schon einmal begegnet sein. Wo kann das bloß gewesen sein? Gitta darf jetzt nicht abdriften. Die Begrüßungsworte hat sie bereits versäumt. Sie zwingt sich zu einem Lächeln. Freundlich hochgezogene Mundwinkel helfen, ihre Unaufmerksamkeit zu überbrücken. Den Muskelzucker hat sie drauf, er ist abrufbar, jederzeit, auch bei Pauls Telefonaten. Er könne ihr Lächeln spüren, behauptet er. Aber das hier ist kein Ferngespräch. Gitta hat ein Gegenüber, schaut in Augen, die sie mustern, sich ein Bild machen. Frau Miklos’ prüfender Blick passt nicht zu dem, was sie sagt: wie sehr es sie freue, Gitta einmal persönlich kennenzulernen, wie wichtig gelegentliche Einzeltreffen seien, dabei können Dinge besprochen werden, die im großen Forum eines Elternabends keinen Platz haben et cetera, et cetera. Gitta versucht, ihre Mimik unter Kontrolle zu halten. Die Wangenmuskeln ziehen wie Stahlfedern an ihren Lippen, verbreitern sie zu einem Lächeln, das wehtut. Sie hört die Lehrerin fragen:

      - Was ist mit Ihrem Bernhard los? Er ist ein intelligentes Kind, hat viel Fantasie, und dann diese Leistungen! Ist bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung?

      Die Federn schnalzen zurück, Gitta schluckt. Bei wem ist schon alles in Ordnung? Sie muss nachdenken, hätte es längst tun sollen, aber da ist die morgendliche Tablette, da sind die Stillleben, da sind ihre Tasks, alle da, um ihr den nötigen Halt zu geben, nicht jedoch, um sie zum Denken zu bewegen. Auf die Tischplatte starrend, die sie und Frau Miklos trennt, meint sie schließlich, dass der Vater selten zu Hause sei, Bernhard dieser vielleicht fehle, sie nicht immer Zeit für ihn habe, aber sonst …

      Frau Miklos erzählt von Bernhards traurigen Augen, die träumend aus dem Fenster blicken und nicht auf die Tafel. Von Bernhards klugen Antworten, wenn es um Sachthemen geht. Von seinen großartigen Zeichnungen, den fehlenden Hausübungen, den halbfertigen Schulübungen, den abenteuerlichen Diktatergebnissen.

      Gitta fühlt sich schuldig. Sie hat die falschen, die schulisch unbrauchbaren Talente zu verantworten, hat keine nützlichen beigetragen und es vor allem verabsäumt, darüber zu wachen, dass Bernhard die ihm gestellten Aufgaben erledigt. Pünktlich und vollständig. Nicht nur sie hat eine To-do-Liste. Auch ihr Sohn. Vielleicht war es doch keine so gute Idee herzukommen. Sie hätte um eine Verschiebung bitten sollen. Sie muss nicht Zeit haben. Es hätte sicher noch andere Termine gegeben. Und Paul! Betreten, ohne Frau Miklos anzuschauen, flüchtet sie sich in die Erklärung, die irgendwie auf jedes Kind zutrifft:

      - Vielleicht protestiert er.

      - Wogegen?

      - Nicht gegen Sie. Er geht gern in die Schule.

      -

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