Der böse Trieb. Alfred Bodenheimer

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Der böse Trieb - Alfred Bodenheimer Red Eye

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er, ging die paar letzten Stufen bis zur Haustür und trat ins Freie, wo ihn eine erfrischende Luft empfing.

      Dem Navigationssystem folgend fuhr er denselben Weg zurück, den er hergefahren war, bei Rheinfelden über die Brücke vom deutschen zum Schweizer Ort desselben Namens, danach auf die Autobahn. Der Verkehr floss ruhig und friedlich dahin. Klein ließ zuerst noch das Radio laufen, doch es störte ihn in seinen Gedanken, die um das Ehepaar Ehrenreich kreisten. Er hatte nicht erfahren, was Sonja die ganze Zeit über alleine in Vietnam gemacht hatte, warum sie sich so lange nicht bei Viktor gemeldet hatte und früher zurückgekommen war. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung die Polizei ermittelte. Doch seine Aufgabe war es nun ohnehin zuallererst, in den nächsten Tagen eine anständige Trauerrede auf Viktor zu schreiben. Was wusste er über ihn? Eigentlich ziemlich viel, auch wenn er ihn nur einmal im Jahr für zwei bis drei Stunden getroffen hatte.

      Ihre Bekanntschaft hatte an einem organisierten Wochenende in dem etwas heruntergekommenen Koscherhotel von Arosa begonnen. Klein hatte dort einen Vortrag gehalten und war deshalb mit der ganzen Familie über den Schabbat eingeladen. Viktor und Sonja hatten die Gelegenheit genutzt, aus ihrer gewohnten Schabbateinsamkeit auszubrechen, auch wenn sie von den anwesenden, fast durchgehend schweizerischen Juden kaum jemanden kannten. Man hatte sich nett unterhalten, aber Klein war recht erstaunt gewesen, wenige Wochen danach von Viktor Ehrenreich eine Mail zu bekommen, ob er bereit wäre, ihn zu Beginn des Monats Elul, der einen Monat vor dem Neujahrsfest die Zeit der Besinnung und Buße ankündigte, zu einer »Sichat Nefesch«, einem Seelengespräch zu empfangen. Klein hatte damals zugesagt, und seither hatte Viktor jedes Jahr von Neuem ein solches Gespräch erbeten. Rivka hatte sich darüber geärgert und gemeint, es gehe nicht an, dass jemand, der nicht aus seiner Gemeinde stamme, dem Rabbiner regelmäßig so viel Arbeitszeit abverlange, ohne etwas dafür zu bezahlen – außer vielleicht mit einer Dose Kekse oder einem Wein. Aber Klein musste zugeben, dass er auch fasziniert war von diesem Mann.

      Am überraschendsten war gewesen, dass Viktor darauf Wert legte, diese höchst vertraulichen Jahresgespräche aufzuzeichnen, und dann jeweils eine Kopie an Klein geschickt hatte. Offenbar erwartete er, dass Klein jeweils vor einem Gespräch das des Vorjahrs noch einmal anhörte, wie er selbst es auch tat, um daran anknüpfen und die Entwicklungen weiterverfolgen zu können. Davon erzählte Klein Rivka nichts, es hätte sie noch mehr erzürnt, weil es noch mehr von seiner Zeit in Anspruch nahm – doch er hatte es immer geschafft, sich jeweils in den Wochen vor Rosch Chodesch Elul, wenn er im Auto oder in der Bahn unterwegs war, die Aufzeichnung zu Gemüte zu führen. Und nun waren diese Aufnahmen, die er alle in einer Datei gespeichert hatte, eine ideale Vorbereitung für die Grabrede.

      Als er, zu Hause angekommen, noch am selben Abend wieder in die Gespräche mit Viktor hineinhörte, überlief ihn zunächst ein Schauer, als er gewahr wurde, dass diese Stimme im Wesentlichen das war, was ihm von der Bekanntschaft mit Viktor noch bleiben würde. Auch fiel ihm mehr als je zuvor der starke russische Akzent in Viktors Stimme auf.

       Wissen Sie, weshalb ich gerade Sie um diese Sichat Nefesch gebeten habe? Sie sind jemand, der zuhören kann. Zuhören ist wichtiger als alles.

       Ich will mich bemühen. Ich spüre, etwas bedrückt Sie.

       Mein Leben.

       Ihr Leben.

       Es fährt an mir vorbei. Wie ein langsam rollender Zug, auf den man aufspringen sollte, aber bei jedem Wagen verpasst man es von Neuem.

       Aber Sie leben doch. Nichts fährt an Ihnen vorbei. Sie sind Zahnarzt. Behandeln täglich Menschen und helfen ihnen. Sie sind Ehemann. Sie sind Jude. Wie ich verstehe, bemühen Sie sich, die Mitzwot einzuhalten.

       Genau das sind die Eisenbahnwagen: der Zahnarztwagen, der Ehewagen, der Wagen mit den Mitzwot. Die rollen alle an mir vorbei.

       Sie schauen überall rein, wollen Sie sagen. Aber nirgendwo sind Sie wirklich beteiligt.

       Ich sagte ja: Sie können zuhören.

      2

      Rabbiner Bunem Kletzki war überrascht über Kleins Anruf.

      »Ich wusste nicht, dass Sie mit Doktor Ehrenreich in Kontakt waren.«

      »Seit einigen Jahren, ja.«

      »Eine fürchterliche Geschichte. Weiß man denn schon mehr über den Tathergang? Gibt es eine Spur?«

      »Das müssen Sie die Polizei fragen. Ich rufe Sie vor allem wegen eines Anliegens von Frau Ehrenreich an.«

      Kletzki schwieg einen Augenblick. »Sie hat Ihnen gesagt, dass unser Verhältnis …«

      »Ich habe aus ihren Worten herausgehört, dass es … angespannt ist. Warum eigentlich?«

      »Das müssen Sie Frau Ehrenreich fragen. Von meiner Seite gibt es dazu keinen Anlass.«

      »Lieber Reb Bunem«, sagte Klein freundlich und dennoch leicht gereizt. »Wir wissen alle, dass es immer zwei Seiten gibt. Sie werden vielleicht den Grund von Frau Ehrenreichs Zorn nicht verstehen. Aber kennen werden Sie ihn.«

      »Ich hatte nie einen Konflikt mit Frau Ehrenreich. Mit ihrem Mann schon, das stimmt. Ich glaube, ihre Abneigung gegen mich ist mehr eine Form der Loyalität zu Viktor, als dass sie persönlich wäre.«

      »Und was war Ihr Konflikt mit Viktor?«

      Kletzki seufzte. »Ich will keinen Laschon hara sprechen.«

      »Und ich will keinen Laschon hara hören«, sagte Klein leicht genervt. »Aber vielleicht hilft es ja, den Konflikt zwischen Ihnen und Sonja Ehrenreich beizulegen, wenn die Ursache analysiert werden kann. Gerade nachdem jetzt der Monat Elul begonnen hat.«

      »Es fing eigentlich sehr gut an«, sagte Kletzki nach kurzem Zögern schließlich. »Die Ehrenreichs und unsere Familie kamen beide ungefähr gleichzeitig hierher. Ich war einer der ersten Absolventen des neuen Berliner Rabbinerseminars, Viktor übernahm die Praxis in Inzlingen vom Vater eines Studienfreunds, wenn ich mich nicht irre. Jeden Schabbat marschierte er stramm eine Dreiviertelstunde in die Synagoge und wieder zurück, am Freitagabend und am Schabbatmorgen. ›Sie durchqueren ein ganzes Land, um am Schabbat in die Synagoge zu kommen‹, sagte ich ihm damals. Wir haben uns gut verstanden.«

      »Ein ganzes Land?«

      »Na ja, die Eiserne Hand.«

      »Reb Bunem, Sie sprechen in Rätseln.«

      »Die Eiserne Hand ist ein schmales Stück Schweiz, das ins deutsche Staatsgebiet hineinragt. Das muss man durchqueren, um von Inzlingen ohne Umweg nach Lörrach zu kommen. Nur ein paar Hundert Meter, aber eben ein doppelter Grenzübertritt.«

      »Ach so.«

      »Jedenfalls, ich sah ihn immer als eine Stütze der Gemeinde an, er war ziemlich aktiv. Bis vor etwa sechs Jahren.«

      Klein horchte auf. Das war kurz nachdem er Viktor in Arosa kennengelernt und bald darauf sein erstes Seelengespräch mit ihm geführt hatte.

      »Was war vor sechs Jahren?«

      »Kennen Sie Anschel Fink?«, fragte Kletzki zurück.

      »Sie meinen den Anwalt? Mit dem Viktor

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