Operation Führerhauptquartier. Will Berthold
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Kurz vor Mitternacht erreicht der Sonderzug des Führers Nürnberg. Der Polizeipräsident der ›Stadt der Reichsparteitage‹ läßt ihn stoppen, flitzt am Bahnsteig entlang, betritt den Salonwagen, stößt auf einen ob der Fahrtunterbrechung unwilligen Hitler. »Mein Führer«, meldet PG Martin aufgeregt: »Mein Führer – ich melde Ihnen: Höllenmaschine im Bürgerbräukeller. Explosion unmittelbar nach Ihrem Weggang. Mindestens zehn bis fünfzehn Parteigenossen nahe der Rednertribüne getötet. Möglicherweise an die Hundert weitere schwer verletzt.«
Detonation? Höllenmaschine? Attentat? Hitler wäre nicht Hitler, würde er nach dem ersten Schock anstelle einer Reihe unglaublicher Zufälle für seine Rettung nicht unverzüglich die Vorsehung bemühen.
Auch die nächste Folgerung ist typisch für ihn: »Das war der Secret Service«, sagt er zu Himmler. »Da gibt es keinen Zweifel«, stellt er bereits vor Anlauf der kriminaltechnischen Untersuchung fest. »Wir werden diesen Schurken eine Antwort erteilen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.« Hitler glaubt an Allgegenwart, Tücke und Schlagkraft des britischen Geheimdienstes wie ein Klippschüler an Winnetou, den Apachenhäuptling. »Wir werden jetzt handeln.«
Himmler nickt eifrig. In dem käsigen Gesicht des Reichspolizisten zeigen sich rote Flecken wie Abdrücke von Ohrfeigen.
»Rufen Sie Schellenberg an«, ordnet Hitler an: »Ich befehle, die Secret-Service-Offiziere ohne Rücksicht auf Verluste und Folgen unverzüglich von Holland nach Berlin zu schaffen. Ich werde diese Halunken dem deutschen Volk vorführen. Ich werde ihm zeigen, wie hinterhältig die Engländer sind.« Er mustert seinen Reichsführer SS starr und setzt hinzu: »Ich erwarte unverzügliche Vollzugsmeldung.« Himmler stürzt ans Telefon; er wählt die rsha-Filiale in Düsseldorf. »Schellenberg«, reißt er den SS-Oberführer aus dem ersten Schlaf. »Wissen Sie überhaupt, was vorgefallen ist?« ruft er aufgeregt in die Sprechmuschel, als wäre er nicht selbst erst vor einer Minute über den Anschlag informiert worden. »Attentat auf den Führer. Er befiehlt, daß die Holland-Operation nunmehr sofort anläuft. Haben Sie mich verstanden?«
»Jawohl, Reichsführer«, erwidert der Benjamin der Prinz-Albrecht-Straße und Günstling des rsha-Chefs Reinhard Heydrich, ein verkrachter Jurastudent, der es während des Kriegs zum Leiter der gesamten deutschen Auslandsspionage bringen wird. »Das wird natürlich nicht ohne Grenzverletzung –«
»Sind Sie wahnsinnig?« schreit Himmler mit kippender Stimme: »Der Führer entgeht im letzten Moment dem sicheren Tod und Sie kommen mir mit solchen Kinkerlitzchen. Bringen Sie die Sache zum Abschluß!« ruft er außer Atem. »Heute noch. Ende des Gesprächs.«
Schellenberg legt auf. Ein voreiliger Befehl zwingt ihn zu überstürzter Aktion. Er steigt aus seinem gestreiften Pyjama in einen eleganten Zivilanzug, verwandelt sich in Dr. Schemmel, Hauptmann der OKW-Transportabteilung, als den ihn die englischen Geheimdienstoffiziere in Holland kennen. Vor dem Krieg hatten die Repräsentanten des deutschen Widerstands einander in London die Türen des Foreign Office in die Hand gegeben und waren ausnahmslos abgewiesen worden. Nunmehr vertrauen die Briten einem SS-Agenten, der eigentlich so durchsichtig ist wie ein Fensterglasmonokel, halten ihn für den Beauftragten einer deutschen Oppositionsgruppe, die von einem ungenannten Wehrmachts-General geführt wird. Und diesen hohen Militär will der zivile Hauptmann bei der nächsten Begegnung in Amsterdam präsentieren, wo auf dem Flugplatz Schiphol eine Sondermaschine bereitsteht, die ihn und Dr. Schemmel nach London fliegen wird. Dort soll in einer Geheimbesprechung mit M.I.-6 eine deutsch-englische Gemeinschaftsoperation zwecks Beseitigung Hitlers abgesprochen werden.
Schellenberg weiß, daß er sein Falschspiel nicht mehr zum Höhepunkt bringen kann, daß er nunmehr List durch Gewalt ersetzen muß. Er ruft über einen Geheimsender ON 4 Holland und bestellt in einem verschlüsselten Funkspruch Major Stevens und Captain Best für den Mittag des 9. November, 14 Uhr, zum entscheidenden Treffen in das Grenzcafé nach Venlo.
Der Funker in Amsterdam bestätigt den klaren Empfang, nicht jedoch, ob der Vorschlag von den Secret-Service-Statthaltern angenommen wird. Das wissen sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich selbst noch nicht.
Dann trommelt Schellenberg sein Kidnapper-Kommando zusammen: zwölf Mann, rauhe, rabiate Burschen, Laien auf der internationalen Agentenbühne. Blutige Laien, seit sie am 1. September den Zweiten Weltkrieg gezündet haben – nach einer Idee Heydrichs, mit Wissen Hitlers und Himmlers, jedoch hinter dem Rücken der schlesischen Behörden.
In polnischen Uniformen hatten sie den spektakulären Überfall auf den Reichssender Gleiwitz verübt und dabei eine polnische Proklamation verlesen.
Um der internationalen Presse die Provokation zu beweisen, mußte man Aggressoren vorführen. Tote Aggressoren aus Polen. Zu deutsch: frische Leichen. Da der Zeitpunkt des Einsatzes nicht genau feststand, waren sie lebend zu konservieren; deshalb gab man ihnen das Tarnwort ›Konserven‹.
Zum richtigen Zeitpunkt wurden KZ-Häftlingen in polnischen Uniformen, fernab vom gestellten Schauplatz, die Verwundungen beigebracht, die sie bei Kampfhandlungen erlitten hätten. Dann legte man die Ermordeten in Grenznähe und vor dem Sender Gleiwitz nieder, damit Hitler den Anschlag aus dem Osten vier Stunden später im Reichstag mit den Worten vergelten konnte: »Seit vier Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen.«
Das Holland-Rollkommando, geführt von einem Sturmbannführer, ist jetzt komplett, bis auf Hauptsturmführer Müller-Wagenknecht, der vor zehn Wochen die Konserven-Aktion geleitet hatte. Vermutlich läßt er sich in der Düsseldorfer Altstadt mit obergärigem Bier vollaufen, jedenfalls wird er dort gesucht.
Die SS-Männer fassen Maschinenpistolen, füllen sich die Taschen mit Eierhandgranaten, tarnen ihren offenen Transportwagen als Privatfahrzeug, kleiden sich in Räuberzivil. Sie gleichen Mitgliedern eines Kegelclubs beim gemeinsamen Himmelfahrtsausflug. Himmelfahrt mag stimmen, aber die Kegel, die ihre Kugel trifft, lassen sich nie wieder aufstellen.
Während dieser Vorbereitungen jagt eine Blitzmeldung um den Erdball: Attentat auf Adolf Hitler. Sieben Tote, über hundert Verletzte. Die Welt hat ihr Thema.
London fragt in Paris an, Paris in London zurück. Fehlanzeige. An München sind diesmal keine Alliierten beteiligt. Wo immer an diesem Tag Menschen beieinanderstehen, diskutieren sie: Wer steckt dahinter? Niemand weiß es, aber überall in Deutschland verbreitet sich das Gerücht, Hitler und Himmler hätten den Bürgerbräu-Anschlag inszeniert, um den Haß auf England zu schüren und dadurch die mangelnde Kriegsbereitschaft der deutschen Bevölkerung anzuheizen.
9. November, zehn Uhr. Die Vertreter der Firma N. V. Handelsdienst voor het Continent im Nieuve Uitleg 15 in Amsterdam, dem Hauptquartier des Secret-Service, treffen sich zu einer Geheimbesprechung. Man rätselt, ob die Höllenmaschine von München bereits das Werk des unbekannten deutschen Generals ist. Im Grunde spielt es keine Rolle, denn das Ziel wurde ganz knapp verfehlt.
Unter den Anwesenden sind einige jüngere Offiziere, die diesem Dr. Schemmel mehr als skeptisch gegenüberstehen: Wieso kann er so oft die Grenze passieren, wo die Deutschen die Ausreise noch strenger kontrollieren als die Einreise? Warum kann der deutsche Verschwörergeneral nicht selbst bis Amsterdam fahren und muß von SIS-Offizieren in Venlo persönlich in Empfang genommen werden? Solche Fragen läßt normalerweise kein Geheimdienst ungelöst durchgehen, aber Stevens und Best sind so vernarrt in ihre Idee, das Monster aus Braunau mit Hilfe der Deutschen zur Strecke zu bringen, daß sie ihrem Gegenspieler vertrauen. Blind vertrauen, denn ihre Überprüfung hat nicht mehr ergeben, als daß es im OKW einen Dr. Schemmel gibt, ohne festzustellen, daß dieser Mann auf eine lange Dienstreise geschickt wurde. Natürlich stimmt sein Ausweis, wenn der Staat, der ihn losschickt, selbst als Fälscher auftritt.
Wenn die Holländer bei einer von den Engländern