Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra

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Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra Dein Business

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Was für eine schöne Formulierung! »Ich bin ein echtes Klischee«, fügte er nur im halb im Scherz an. »Ich musste erst umkippen, um es zu kapieren.« Weshalb machen Menschen sowas eigentlich mit – und empfinden es sogar noch als Freiheit? Diese Frage begleitet mich nicht erst seit dem Gespräch mit Jochen, und sie wird auch in diesem Buch immer wieder mitschwingen.

       Ansteckende Lähmung

      Eine, die noch rechtzeitig die Reißleine gezogen hat, ist Kathrin. Wir lernten uns genau an dem Tag kennen, an dem sie ihren Aufhebungsvertrag unterschrieben hatte. Bis zu diesem 20. August 2019 war sie Mitglied der Geschäftsleitung eines inhabergeführten Unternehmens der Finanzbranche gewesen. Zwei Jahre zuvor hatte sie diese Stelle angetreten, nach einer Karriere in großen Unternehmen und mit dem Gefühl, in dieser mittelständischen Organisation nun mehr als bisher bewegen zu können. Immerhin war sie ja sogar im Vorstand – und aus dieser durchaus machtvollen Position heraus hatte sie Wirkung entfalten wollen. So ihre Ambitionen.

      Der Anfang war wunderbar. Das Team, mit dem Kathrin zusammenarbeitete, war großartig und ihre Initiativen fielen auf fruchtbaren Boden. Doch es mehrten sich Erlebnisse, die Kathrin stutzig machten. Ihr fiel auf, dass die Menschen in ihrem Team zwar bereitwillig Vorschläge von ihr aufgriffen, jedoch nie selber welche einbrachten, obwohl sie als Chefin dies ausdrücklich »erlaubt«, es sich sogar gewünscht hatte. »Ich hatte die Fesseln durchgeschnitten«, formulierte Kathrin, »aber trotz der gelösten Fesseln bewegte sich niemand auch nur einen Zentimeter.«

       »Ich hatte die Fesseln durchgeschnitten, aber trotz der gelösten Fesseln bewegte sich niemand auch nur einen Zentimeter.«

      Das blieb bis zuletzt so. In einem Gespräch fragte sie einen ihrer Mitarbeiter, in welche Richtung er sich gerne weiterentwickeln möchte. Er schaute sie mit großen Augen an: Das hatte ihn noch niemand gefragt. Ihn und auch viele andere nicht, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Überhaupt ging es in dem Unternehmen selten um die Menschen selbst, sondern nur um das, was sie taten. Im Blickpunkt stand deswegen, dass der Wertgutachter nicht schnell genug das Gutachten lieferte – und nicht etwa, dass der Herr Meier, der Mensch hinter dem Wertgutachter, gerade große Sorgen hatte und deshalb vielleicht mal für ein Gutachten einen Tag länger braucht. So dominierten Rückmeldungen eher negativer Natur oder sie blieben ganz aus. Nur ausnahmsweise wurde formuliert, was man gebraucht hätte – was deutlich konstruktiver gewesen wäre.

      Kathrin erlebte immer mehr, dass auch die Kollegen auf ihrer Ebene kapituliert hatten. »Das bringt doch eh nichts, das ist halt so, das war schon immer so, ich versuche hier nichts mehr«, diese Sätze hörte sie sehr oft. Von dieser Lähmung wollte sie sich nicht anstecken lassen. Sie hatte bemerkt, dass sich diese resignierte Haltung auch schon in ihrem sonstigen Leben breitzumachen begann – und das war für sie das Alarmzeichen, das zur Kündigung geführt hat. Sie erkannte sich selbst nicht mehr, so antriebslos und pessimistisch hatte sie sich schon sehr lange nicht mehr erlebt. »Ich fing an, die Beziehung zu mir selbst zu verlieren«, fasste sie ihre Emotionen dazu zusammen.

       Eine Frage der Dosis

      Eigentlich wollte ich nun an dieser Stelle zusammenfassen, wofür Jochen und Kathrin für mich stehen. Doch ich möchte Ihnen nicht vorenthalten, was ich gerade beim Mittagessen mit meiner Tochter erlebt habe. Sie haben Rianna im letzten Kapitel schon kurz kennengelernt. Sie fragte mich eben, an welchem Kapitel meines Buches ich zurzeit arbeite. Ich antwortete, es würde um die Folgen gehen, die gefesselte Lebendigkeit in Unternehmen und Schulen hat. Was sie dann sagte, hat mich sehr betroffen gemacht: »Ich glaube, ich habe das kreative Denken in der Schule verlernt. Ich bin nicht mehr besonders, sondern eine Aufgabenerfüllerin.«

      Nach dieser Aussage war nun erst einmal ein Spaziergang mit meiner Großen fällig, das konnte und wollte ich so nicht stehenlassen. Die Essenz aus unserem Gespräch: Der Grundtenor von Aufgabenerfüllung, Leistung und Konkurrenz, den meine Tochter in der Schule erlebt, wirkt sogar, obwohl ihr die Mechanismen sehr bewusst sind. Sie möchte ihnen gar nicht so sehr folgen, doch es kostet sie eine ganze Menge Energie, sich immer wieder davon abzugrenzen. Und diese Kraft hat sie einfach nicht jeden Tag zur Verfügung. Ich glaube, das geht uns Erwachsenen nicht anders. Es ist auf Dauer sehr anstrengend, wenn in unserem Umfeld Maximen gelten, die mit unseren eigenen nicht übereinstimmen. Wir müssten dann immer und immer wieder Energie aufwenden, um uns diese Einflüsse vom Leib zu halten.

      Was wir jeden Tag in unseren Organisationen erleben, prägt unsere Werte, unser Weltbild und unser Verhalten – ob wir wollen oder nicht. Die Erwartungen, denen wir täglich begegnen, machen wir zu einem Bestandteil unserer Identität und Persönlichkeit. Manchmal zahlen wir dafür einen hohen Preis, werden krank in diesen Systemen. Das ist eigentlich eine sehr gesunde Reaktion. Die Menschen bei sysTelios formulieren das so: »Wer in einem kranken System krank wird, ist eigentlich sehr gesund.« Sie meinen das in keiner Weise zynisch und nehmen das damit verbundene Leid sehr ernst. Doch es ist oft ein erster Schritt, Erschöpfung oder Burn-out als Lösungsversuch einer schwierigen Situation zu deuten – und nicht als Schwäche. Dazu später mehr.

      Trotz dieser manchmal gravierenden Auswirkungen der etablierten Vorgehensweisen in Unternehmen wie Schulen liegt es mir fern, alles zu verdammen und ein komplett anderes System zu fordern – obwohl ich den alten Marx an der ein oder anderen Stelle gut verstehen kann. Es ist aber eine Frage der Dosis. Mein Mann, der Chemiker ist, sagt dazu: »Ob etwas giftig ist, kann man nie absolut sagen. Es kommt immer auf die Menge an.« Die schädliche Dosis ist aber an vielen Stellen längst erreicht, nicht nur für uns Menschen, sondern auch in unseren Organisationen. Die leiden auch.

       Das volle Programm

      Nun bin ich auch Ökonomin und nehme als solche nicht nur menschliches Wohlbefinden in den Blick, sondern auch die Konsequenzen der fehlenden Lebendigkeit für die Unternehmen selbst.

      Kurz und sehr ökonomisch gesprochen werden Unternehmen in ihrer Wertschöpfung behindert, ja sogar in ihrer Existenz gefährdet, wenn es in ihnen nicht lebendig zugeht. Das habe ich in meiner Zeit in Ludwigshafen miterleben müssen und ich vermute, dass Sie ebenfalls Erfahrungen in diese Richtung gemacht haben. Dass Sie möglicherweise auch erlebt haben, wie in einem Projektmeeting noch alle Ampeln im Projektplan auf »Grün« standen und in der nächsten Woche klar wurde, dass die Zulassungsunterlagen auf keinen Fall fristgerecht fertig werden würden. Was war passiert? Es hatten alle so getan, als wenn im Projekt alles bestens läuft, und die Ampeln auf »Grün« gestellt. Wer das nicht tat und rechtzeitig warnte, dass es eng werden könnte, so die Erfahrung, bekam sofort ein Problem. Wer das aussaß und hoffte, es würde schon irgendwie gut gehen, bekam nur dann ein Problem, wenn es wirklich schiefging.

      Ich verstehe gut, wenn Menschen sich das nicht antun wollen und schauen, ob sie sich durchwurschteln können. Doch für das Unternehmen ist so ein System, das zu solchem Verhalten einlädt, eine große Gefahr. Herausforderungen und Schwierigkeiten werden nicht rechtzeitig erkannt, und damit fehlt die Möglichkeit, gegenzusteuern. Ergebnis? Ein Medikament kommt erst mit monate- oder jahrelanger Verzögerung auf den Markt, die Maschine kann nicht fristgerecht ausgeliefert werden oder ein Flughafen jahrelang nicht eröffnet werden. Umsatzausfälle, Vertragsstrafen, Imageschäden – das volle Programm.

      Noch dazu gehen dann gute Leute, weil sie frustriert sind. Oder sie bleiben und machen Dienst nach Vorschrift, was nicht unbedingt besser ist. Und das nicht, weil sie nicht anders wollen oder böswillig Leistung vorenthalten, sondern vielfach, weil sie für etwas anderes keine Kraft mehr haben. Damit sind dann nicht nur kurzfristig Umsätze in Gefahr, sondern langfristig der Bestand des Unternehmens. Denn wenn die Kraft fehlt, bleiben auch Entwicklungen, Verbesserungen und Innovationen aus. Auf Dauer ist das tödlich. Vor über 20 Jahren in Ludwigshafen passierte

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