Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra

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Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra Dein Business

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allzu oft sind diese Erfahrungen geprägt von gefesselter Lebendigkeit, wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben.

      Wer aber immer wieder bestimmte Erfahrungen macht, entwickelt daraus eine bestimmte innere Haltung. Sie prägt Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen. Somit wundert es mich nicht, wenn Eltern Arbeitsblätter und Strafarbeiten fordern – sie haben diese Mechanismen an vielen Stellen erlebt. Ebenso wie hierarchisches Denken, Konkurrenz, Standards, Kontrolle und Regelkonformität – alles Elemente, die den heimlichen Lehrplan von Schulen noch heute prägen.

      Sie meinen, ich übertreibe? Ich wünschte, Sie hätten recht, aber angesichts so mancher Erlebnisse in den Schulen meiner Kinder und vieler Gespräche mit Eltern befürchte ich, dass meine Beschreibungen nicht überzogen sind. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, als mein Sohn bedrückt aus der Schule kam – am dritten Tag in der Vorschule. Dass die Schuleuphorie so schnell vorbei sein würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Was war passiert? Die Lehrerin hatte eingeführt, dass die Kinder morgens nach Betreten des Klassenraums zu ihr nach vorne kommen und ihr die Hand geben sollten. »Mama, muss ich das machen?«, fragte mein Sohn. »Ich finde das doof.«

       Hierarchisches Denken, Konkurrenz, Standards, Kontrolle und Regelkonformität – prägen den heimlichen Lehrplan in den Schulen.

      Nun werden Sie vielleicht sagen, eine freundliche Begrüßung, noch dazu mit einem Händedruck, ist doch etwas sehr Schönes. An sich schon, da bin ich ganz bei Ihnen. Gleichzeitig gab es da offenbar etwas, was bei meinem damals fünfjährigen Sohn das diffuse Gefühl auslöste, dass irgendetwas nicht stimmte. Er fühlte sich sehr unwohl.

      Es wurde ein längeres Gespräch zwischen Mutter und Sohn, in dessen Verlauf deutlich wurde, dass es in der Tat nicht um die Geste des Händeschüttelns an sich ging. Sondern darum, wie diese Begrüßung von der Lehrerin inszeniert worden war. Mit seinen fünf Jahren brachte es mein Sohn damals ziemlich direkt auf den Punkt: »Die ist doch keine Königin, die auf dem Thron sitzt.« Er fühlte sich durch die Art der Inszenierung klein – und erniedrigt.

      Dieses Erlebnis hat mir sehr zu denken gegeben. Da wird aus einer an sich schönen und gut gemeinten eine abwertende und erniedrigende Geste. Aus etwas, was ich gerne tue, nämlich jemanden begrüßen, wird eine Verpflichtung. Ich dramatisiere? Es kann schon sein, dass ich an dieser Stelle – ebenso wie offenbar mein Sohn – besonders empfindlich bin. Für mich zeigt diese Geschichte, wie fein und subtil der heimliche Lehrplan wirkt.

      Wenig später sollte ich einen weiteren Akt im Theaterstück »Heimlicher Lehrplan« erleben, der noch tiefgreifender war: Meine Tochter hatte, wie einige ihrer Mitschüler auch, eine Strafarbeit aufbekommen, weil sie trotz wiederholter Aufforderungen des Klassenlehrers herumliegende Sachen im Klassenraum nicht aufgeräumt hatte. Ich schaute sie mit großen Augen an, als sie mir davon erzählte. Sie sollte allen Ernstes die Hausordnung der Schule abschreiben, weil sie ein Bild aus dem Kunstunterricht nicht weggeräumt hatte? Eine Strafarbeit? Und so etwas kam auch noch von einem jungen, modernen und beliebten Lehrer? Ich verstand die Welt nicht mehr. Als Kind der 1970er-Jahre habe ich in meiner Schulzeit durchaus noch Ausläufer der »Schwarzen Pädagogik« erlebt, aber ich dachte, das sei nun wirklich vorbei. Ich irrte. Wie sehr, dass stellte ich anlässlich des kurz nach dieser Episode stattfindenden Elternabends fest.

      Das Thema »Strafarbeit« kam zur Sprache, darum hatten offenbar mehrere Eltern – und anderem ich – gebeten. Was ich dann an diesem Septemberabend zu hören bekam, irritierte mich zutiefst. Viele der anderen Eltern freuten sich über die Strafarbeit. »Endlich mal Disziplin!«, war der Tenor der Diskussion, und funktioniert hatte es schließlich auch, der Klassenraum sah am Elternabend picobello aus. Keine Frage, das stimmte. Meistens ist das auch so, dass Strafen – wie auch Belohnungen – den gewünschten Effekt haben, zumindest für eine gewisse Zeit.

      Doch weshalb ist das so? Belohnungen und Bestrafungen aktivieren Emotionen, das können Neurowissenschaftler inzwischen anhand von Aufnahmen des Gehirns nachweisen. Und wann immer Emotionen im Spiel sind, lernen wir etwas. In diesem Falle, wie wir am besten Belohnungen einheimsen und Bestrafungen vermeiden. In den seltensten Fällen führen solche Anreize aber dazu, dass die Lust steigt, sein Wissen und Können einzubringen und weiter zu entwickeln. Oder die Lust, den Klassenraum aufzuräumen. Ebenso wenig findet eine Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen anderer statt. Dem Lehrer ging es vermutlich um Ordnung im Raum, eine freundliche Lernatmosphäre und vielleicht auch um eine gewisse Anerkennung seines Wunsches und seiner Person. Doch wie finden er und die Kinder einen Weg, seine Bedürfnisse zu erfüllen – und gleichzeitig die der Kinder einzubeziehen? Durch eine Strafarbeit sicher nicht, auch nicht als »letztes Mittel«.

      Im Kontext Schule braucht der Einsatz von Belohnung und Bestrafung besondere Vorsicht, denn die jungen Menschen lernen damit bereits in einer sehr frühen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung, sich an diese Mechanismen anzupassen. Diese Konditionierung erleben sie dann früher oder später als normal. Wie sehr, das wurde mir in einer norddeutschen Hochschule bewusst. Ich übernehme hin und wieder Lehraufträge, da mir die Arbeit mit jungen Leuten sehr wichtig ist.

      Da saßen nun also an einem sonnigen Maivormittag ungefähr 30 Studierende, und wir sprachen über das Bild, das wir von uns selbst und von anderen Menschen haben. Bei der Bitte, sich selbst einzuschätzen, sagten fast zwei Drittel der Gruppe, sie wünschten sich Ansagen und würden ungern Verantwortung übernehmen. Wie bitte? Ich nutze diese Art der Selbsteinschätzung durchaus häufiger bei Vorträgen, doch so ein großer Anteil, der sich für nicht aus sich heraus motiviert hält, war mir bis dahin noch nie begegnet – und ist mir auch seitdem nicht mehr begegnet.

      Wie kamen so junge Menschen zu diesem Schluss? Die waren doch bisher kaum mit Unternehmen in Kontakt, angesichts deren Strukturen sie auf solche Gedanken hätten kommen können. Offenbar leisten Schulen und Universitäten da bereits früh ganze Arbeit. Das ist dramatisch! Das versteckte Curriculum wirkt dabei oft viel stärker als jeder Unterricht – egal, wie gut oder schlecht er ist. Das kann ich an meinen Kindern gut studieren: Während sie Inhalte aus der Zeit vor vier, fünf oder sechs Jahren längst vergessen haben, erinnern sie sich an die Erlebnisse mit Strafarbeit oder Händeschütteln nur zu gut. Leider.

      Schule, wie wir sie heute erleben, ist vielfach immer noch von Hierarchie geprägt – Aufgabenerfüllung, Verwaltung und Überwachung, steuernde, standardisierende und kontrollierende Führung sind wesentliche Elemente, Effizienz ist das Ziel. Damit verhindert Schule aber gerade genau das, worauf es in Zukunft ankommt: Selbstorganisation, Selbstbestimmung, Verantwortung, Beziehungen, Kooperation, Kreativität und Innovation. Alle Beteiligten merken, dass da was nicht passt, und spüren die dadurch wachsende Spannung.

       Und, was hast du?

      Diese Spannung trägt zu dem großen Druck bei, der in Schulen heute vielfach spürbar ist. Schon ab der zweiten Klasse geht es um den Übergang auf das Gymnasium, in Klasse fünf und sechs um den Verbleib auf demselben und später um den besten Abischnitt. Konkurrenz und Vergleich sind allgegenwärtig. Meine Tochter, durchaus eine »gute« Schülerin, sagte auf die Frage, was sie an Schule am meisten stört: »Die Frage: Und, was hast du?« Nach jeder Arbeit und jeder Zeugnisvergabe beginnt das große Vergleichen: Wer ist besser als der andere? Die Vergleiche erzeugen Druck – und der tut ihr nicht gut. Anderen auch nicht, wie sie aus Gesprächen mit ihren Freundinnen und Klassenkameraden weiß. Nicht selten kommt dann noch Druck von zu Hause dazu. Eine Mitschülerin darf bei einer Note schlechter als »gut« für vier Wochen nicht mehr zum Tanztraining gehen, sondern muss stattdessen lernen, ein Klassenkamerad sieht sich bei jeder schlechten Note mit Standpauken konfrontiert. Unterstützung sieht anders aus.

      Doch auch Eltern stehen immer wieder am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie wollen das Beste für ihre Kinder und möchten für einen möglichst hohen Bildungsabschluss sorgen, damit ihre Kinder später ein gutes Leben

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