Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra

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Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra Dein Business

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Druck aus den Elternhäusern kommt aber nicht nur bei den Kindern an, sondern genauso bei den Lehrerinnen und Lehrern. Sie müssen vorgegebene Lehrpläne erfüllen, Stoff durchackern, Fehler anstreichen und bewerten. Viel zu oft werden die Pädagogen in diesem System zu Defizitnachweisern, und das sehr häufig gegen ihre Überzeugungen. Sie wollen mehrheitlich etwas anderes, wollen ihre Schülerinnen und Schüler unterstützen auf ihrem Weg. Doch das ist kaum möglich, wenn schon wieder die nächste Klausur ansteht und der Lehrer wieder Noten geben muss.

       Kinder brauchen zum Lernen Menschen, mit denen sie sich austauschen können und denen sie sich verbunden fühlen.

      Sich dabei seine eigene Lust am Entdecken, Gestalten und Weiterentwickeln zu erhalten, ist alles andere als einfach – und doch so notwendig, um den Job zu machen. Denn Kinder – und nicht nur sie – brauchen zum Lernen neben Freiräumen für eigenes Denken und Raum zum Ausprobieren vor allem erfahrene Menschen, mit denen sie sich austauschen können und denen sie sich emotional verbunden fühlen.

      Liebe Lehrerinnen und Lehrer, die Sie jeden Tag probieren, Ihren Schülerinnen und Schülern einer dieser Menschen zu sein: Danke. Ich ziehe den Hut vor der Arbeit, die Sie jeden Tag leisten. Leider zahlen Sie dafür oft einen hohen Preis.

       Objekte der Belehrung

      Studien belegen: Lehrer leiden häufiger als alle anderen Erwerbstätigen unter psychischer Erschöpfung. Und ungefähr ein Drittel der Kinder geht mit Angst in die Schule. Sie haben Angst, zu versagen. Sie haben Angst, beschämt zu werden, wenn sie Fehler machen. Angst und kreatives Problemlösen schließen sich aber aus. Angst und Lebendigkeit auch. Viel wahrscheinlicher ist, dass die gewohnten Mechanismen umso stärker werden. Das ist das Bekannte, Bekanntes schafft Sicherheit und Sicherheit nimmt Angst.

      So ist wohl auch zu erklären, weshalb die erste der vier von der UNESCO benannten Säulen der Bildung in Schulen besondere Aufmerksamkeit bekommt, nämlich »Lernen, Wissen zu erwerben«. Keine Frage, eine ausreichend breite Allgemeinbildung, verknüpft mit der Möglichkeit, vertiefende Kenntnisse in ausgewählten Fächern zu erwerben, ist wichtig. Eine solche Grundbildung ist ein gutes Fundament für einen lebenslangen Lernprozess. Wenn es gut läuft, macht dieses Legen von Fundamenten auch Lust auf mehr. Leider ist aber der Wissenserwerb üblicherweise geprägt vom Lernen aus Büchern, durch Zuhören und Reden. Am Anfang einer Stunde steht schon fest, was am Ende rauskommen soll. Es gilt als professionell, wenn der Plan aufgeht. So wird es auch immer noch in der Lehrerausbildung gelehrt.

      Die Schülerinnen und Schüler werden so zu Objekten der Belehrung, mit den entsprechenden Folgen für ihre Motivation und ihre Lust am Lernen. Aber sie sollten besser als Subjekte ihrer individuellen Lernprozesse diese selbst organisieren. Das ist herausfordernd, keine Frage, doch schon junge Kinder können das viel besser, als wir denken. Als ich neulich mit meinen Kindern zusammensaß und wir über ihre Erfahrungen mit Schule sprachen, sagten beide unisono, sie würden sich gerne viel mehr selbst erarbeiten und es nicht vorgesetzt bekommen. Damit würden sie nicht nur Wissen erwerben, sondern so wichtige Kompetenzen wie Selbstorganisation, Eigenverantwortung und kritische Auswertung von Informationen gleich mitentwickeln. Die jungen Menschen machen beim eigenverantwortlichen Lernen auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit – und die ist unbezahlbar. Wer erlebt, auch schwierige Situationen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können, wird sich Herausforderungen viel leichter stellen.

      Wer aber immer wieder von anderen Menschen hört, dass er ein Versager ist – zum Beispiel ausgedrückt durch Noten –, dessen Überzeugung, selbstwirksam sein zu können, wird nachhaltig geschwächt.

       Wissen allein genügt nicht

      »Das Fachwissen der Schulabgänger, die zu uns kommen, ist zufriedenstellend. Und es ist viel weniger wichtig, als Eltern denken.« Das sind die Worte von Frank Liebelt, ehemaliger HR Group Director bei Vaillant, einem großen, international tätigen Familienunternehmen im Bereich Heiz- und Kühltechnik, in einem Interview mit der Initiative »Schule im Aufbruch«. Was er vermisst? Eigenverantwortung, Initiative, Kooperationsfähigkeit, kritisches Denken. »Auszubildende nehmen Vieles unkritisch hin. So kennen sie es aus der Schule – der Lehrer sagt, was sie bis Montag machen sollen, und dann machen sie das«, ergänzt er seine Aussage.

      Wenn aber schon junge Menschen so in die Unternehmen kommen, wie wollen wir dann eine andere Art zu Arbeiten etablieren? Es ist heute viel subtiler als noch zu meiner Schulzeit, aber letztlich konditioniert Schule immer noch auf Wissen und Anpassung, das wird unter anderem an der Aussage von Frank Liebelt deutlich.

      Die Verantwortlichen bei der UNESCO werden sich aber etwas dabei gedacht haben, als sie neben der ersten Säule »Lernen, Wissen zu erwerben« drei weitere formulierten: »Lernen, zu handeln.« Und das vor allem, wenn noch nicht klar ist, was gerade »das Richtige« ist, möchte man ergänzen. Es geht ganz besonders um Handlungsfähigkeit in unklaren, komplexen Situationen. Die dritte Säule heißt: »Lernen, zusammenzuleben.« Und damit auch lernen, zusammenzuarbeiten, denn die Zeit der genialen Individualisten, die etwas ganz alleine tun, ist definitiv vorbei. Und als vierte Säule formulierte die UNESCO: »Lernen, zu sein.« Damit ist so etwas gemeint wie, sich selbst zu kennen, zu reflektieren und die eigene Entwicklung zu gestalten. »Lernen, zu sein« ist der wohl wichtigste Aspekt – und zugleich der am wenigsten in Schulen berücksichtigte. Aber nur alle vier Säulen zusammen ergeben eine Bildung, die dem Leben gerecht wird, und eine, die junge Menschen auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft angemessen vorbereitet.

      Doch statt diesen Gedanken zu folgen, schränken wir die Lebendigkeit der Schüler ein, wir legen ihr Fesseln an. Das hat Folgen für uns Menschen, unsere Organisationen und die gesamte Gesellschaft. Diese ganzen Fesseln haben Folgen, die weit über die Schule hinauswirken.

       Folgen für Menschen, Organisationen und Gesellschaft

      Ich weiß nicht, wie es Ihnen beim Lesen der letzten beiden Kapitel ging. Beim Schreiben hatte ich phasenweise ganz schön schlechte Laune, und in den Ärger mischte sich gleichzeitig mit jeder Zeile einmal mehr Traurigkeit. Weshalb?

      Weil das, was ich auf den letzten Seiten beschrieben habe, sich nicht nur in unseren Organisationen, Behörden und Schulen abspielt. Das für sich genommen wäre schon beklagenswert genug. Es ist aber in der gesamten Gesellschaft präsent und hat Einfluss auf das Leben jedes Einzelnen. Viele von uns verbringen acht oder mehr Stunden am Tag an ihrem Arbeitsplatz, das ist ein großer Teil unserer wachen Lebenszeit. Dort etwas bloß »auszuhalten« ist bitter. Unsere Schülerinnen und Schüler sind zehn, zwölf oder dreizehn Jahre in diesem System unterwegs. Jetzt könnten Sie sagen: »Ja, nicht schön, aber das ist eben so. Es geht nicht anders, da muss man eben mal den Arsch zusammenkneifen.«

       So viele haben sich daran gewöhnt, dass ihre Lebendigkeit gefesselt ist und bemerken es kaum noch.

      Ich bin bei Ihnen, dass das mit dem Arsch manchmal notwendig ist. Doch als Dauerzustand über Jahre taugt das nicht. Der Preis dafür ist eindeutig viel zu hoch. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? So viele haben sich daran gewöhnt, dass ihre Lebendigkeit gefesselt ist und sie diesen Preis fortwährend zahlen, dass sie es selbst kaum noch bemerken – oder erst sehr spät. Wenn sich der Körper mit unüberhörbaren Zeichen wie Tinnitus, Verspannungen, Burn-out oder gar Herzinfarkt meldet. Und selbst, wenn es dazu schon gekommen ist, gilt die Aufmerksamkeit der Betroffenen nicht selten der Frage, wie sie schnell fit werden können, um wieder mitzulaufen im Hamsterrad. Zu klischeehaft? Ich würde mich freuen, wenn es so wäre, doch mir sind dafür schon zu viele Menschen begegnet, die genau diese Geschichten von gefesselter Lebendigkeit

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