Der sechste Passagier. Theodor Kallifatides
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Er hatte in sein Funkgerät gerufen, dann geschrien, und als ihm klar wurde, was geschehen war, hatte er geweint. Alle wußten, daß ihn keine Schuld traf, trotzdem mußte er es immer wieder beteuern.
Er riß sich zusammen und beantwortete ein paar einfache Fragen. Der Pilot hatte gesagt, daß der Öldruck plötzlich gesunken sei. Erst fiel der eine Motor aus, dann der andere. Sie hatten die ganze Zeit Kontakt gehabt, bis das Flugzeug einfach verschwand. Er wußte nicht, wie viele Leute an Bord gewesen waren, und von Nikki Air wußte er auch nichts. Er verwies sie an den Aufklärungsdienst, der tatsächlich in der Zwischenzeit einiges herausgefunden hatte.
Nikki Air war eine kleine Fluggesellschaft mit Sitz in Trelleborg, spezialisiert auf VIP-Transporte. Deshalb hatte Kristina sie im Telefonbuch nicht gefunden. Eine Passagierliste gab es nicht, man arbeitete hier nach etwas anderen Prinzipien, Diskretion war das zentrale Verkaufsargument. Am besten würde es sein, sich direkt an das Büro in Trelleborg zu wenden.
Sie versuchten es sofort, aber es meldete sich nur ein Anrufbeantworter.
Kristina rief Puskas an und fragte, ob die Bergung der Leichen etwas ergeben hätte. Noch nichts, lautete die Antwort. Aber die Marine hatte per Hubschrauber einige Taucher geschickt, die sich ein eigenes Bild von der Lage machen wollten. Sie hofften, in wenigen Stunden mit der Arbeit beginnen zu können.
Mit anderen Worten: nichts Neues, nichts über die Passagiere oder den Piloten. Kristina war enttäuscht und müde, deshalb schlug sie vor, über Stockholm zurückzufahren und in der Konditorei am Mariatorg einzukehren, wo es die beste Möhrentorte der Stadt gab.
Auf dem Platz war viel Betrieb. Ein paar Leute spielten Boule, andere lagen im Gras, Kleinkinder plantschten im Brunnenbecken, Hunde rannten so selbstvergessen herum, wie nur Hunde es können, und auf den Kneipenterrassen saß man beim Bier.
Kristina hatte in dieser Gegend jahrelang ihre Dienststelle gehabt. Sie kannte jeden, und jeder kannte sie. Am liebsten ging sie in »Sofijas Skafferi«, wo es gutes, preiswertes Essen gab und eine Wirtin, die immer lächelte.
Sollten sie nicht auch lieber ein Bier trinken? Maria hatte nichts dagegen. Sie deutete diskret auf die beiden jungen Frauen, die in der Allee vor ihnen hergingen, eng umschlungen. Es waren zwei stadtbekannte junge Frauen, sie waren sich dessen bewußt, und es lag ihnen offensichtlich daran, der Welt ihre Liebe zu zeigen. Plötzlich blieben sie stehen. Die ältere hob den Fuß wie Strindbergs Fräulein Julie, und sogleich kniete die jüngere vor ihr nieder, um ihr das Schuhband zu schnüren, das sich gelöst hatte.
In Stockholm wurde gerade das »Gay Festival« gefeiert. Von Tantolunden her dröhnte Musik, überall hingen Plakate, die Schlammringkämpfe, Stöckelschuhrennen oder Schlagerwettbewerbe ankündigten. Das alles bedeutete Leben, Bewegung, nicht zuletzt Selbstdarstellung. Die Homosexuellen freuten sich, daß sie ihr eigenes Fest bekommen hatten, und die wenigsten unter ihnen besaßen genügend Scharfblick, um zu erkennen, daß damit endgültig eine Mauer zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft errichtet wurde. Ungefähr so, wie wenn Einwanderer ein Lokal bekommen, in dem sie unter sich sein dürfen. Man war nicht dabei, die Homosexualität zu integrieren, man war dabei, ihr Außenseitertum zu festigen.
Maria war anderer Meinung. Es sei doch gut, daß die Schwulen sich öffentlich zeigten, denn wen man in den Untergrund verbannte, den würde man über kurz oder lang in dunklen Gassen und später in irgendwelchen Anstalten wiedertreffen. Der erste Überschwang würde sich ohnehin mit der Zeit legen, die Tunten würden wie alle anderen werden, mit Ratenzahlungen und Rentenversicherungen, und am Ende würden sie bloß noch Demonstrationen gegen die Grundsteuerpflicht organisieren.
In diesem Augenblick kam das Bier, und sie prosteten einander einträchtig zu, dankbar dafür, hier zu sitzen, dies alles zu sehen und die Sonne auf dem Gesicht zu spüren. Denen, die im Flugzeug auf dem Grund des Getarsees lagen, würde das nie wieder vergönnt sein.
6
Nikki von Lauterhorn war nicht mehr mit Erland von Lauterhorn verheiratet, aber seinen Nachnamen hatte sie behalten. Er war gut für das Geschäft. Sie war Alleineigentümerin von Nikki Air, die Idee zu dem Unternehmen stammte von ihr, und das Kapital ebenfalls.
Sie war am 17. Mai 1972 geboren, als erste und einzige Tochter von Ingalill Eriksson aus Eskilstuna. Ihr Vater war ein griechischer Einwanderer, ungefähr so zuverlässig wie die Prognosen von Aktien-Analysten. Er verschwand, sobald das kleine Mädchen mit seinen großen, blaugrauen Augen das Licht der Welt erblickt hatte.
Nikki wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Der Ausdruck gefiel ihr, er hatte so etwas Heroisches. Mit vierzehn wurde sie von einer Model-Agentur entdeckt, mit knapp achtzehn war sie berühmt, und mit zwanzig war sie weg vom Fenster.
Sie hatte ein wenig Erspartes, das sie in Erland von Lauterhorn investierte, einen jungen Mann, der mit seinen abenteuerlichen Ambitionen und seinen noch abenteuerlicheren Ideen ihr Herz erobert hatte. Er träumte davon, ein Karl XII. des New-Economy-Zeitalters zu werden, und sein Erfolg übertraf alle Erwartungen. Innerhalb von zwei Jahren hatte er mit Nikkis Hilfe die Firma »Vinci Konsult« zu einem multinationalen, milliardenschweren Konzern ausgebaut.
Die Geldgeber standen Schlange vor seiner Tür, der adelige Name zog reiche Plebejer an wie ein Magnet, das Unternehmen expandierte ohne Ende, ständig kaufte man andere Firmen auf, praktisch ohne einen Öre dafür zu bezahlen. Das heißt, bei »Vinci Konsult« bezahlte man in Aktien. Die Zeitungen rissen sich um Interviews mit Erland von Lauterhorn, das Fernsehen brachte sein Porträt, der Rundfunk widmete ihm stundenlange Programme.
Mit anderen Worten, es war die alte Geschichte: Wenn man in Schweden auf einem Gebiet als unfehlbar gilt, hat man in allen Dingen recht. Und Erland äußerte sich zu allem und jedem, insbesondere zur sozialdemokratischen Regierung, die er aus dem tiefsten Grund seines blaublütigen Herzens verachtete.
Nikki war glücklich über den Erfolg, aber ihr Eheleben war mit der Zeit so sporadisch geworden wie das von Zirkuselefanten. Erland kam immer seltener nach Hause; wenn er nicht gerade in New York war, dann war er in Tokio. Außerdem wurde er immer müder, und um sein Lebenstempo zu halten, mußte er sich bald verschiedener Stimulantien bedienen. Dazu gehörten auch kleine Eskapaden jenseits von Nikkis Bett, in dem sie nun immer häufiger allein blieb, in der Gesellschaft von zweiundfünfzig Fernsehkanälen.
Aber auch sie legte sich neue Gewohnheiten zu. Sie schaute sich pornographische Filme an, Nacht für Nacht. Die ersten zwei Minuten waren anregend, dann wurde es langweilig, und sie schwor sich, es nie mehr zu tun. In der folgenden Nacht saß sie dann doch wieder wie festgeklebt vor dem Bildschirm. Pornographie ist eine Droge wie jede andere, man wird abhängig von diesen Bildern, von der Wollust der ersten Minuten.
Irgendwann sah sie ein, daß sie etwas tun mußte. Sie mußte ihr Leben ändern. Einen Monat bevor die New-Economy-Aktien an der Börse einbrachen, verkaufte sie ihren Anteil an »Vinci Konsult« und reichte die Scheidung ein. Erland von Lauterhorn war einverstanden. Für Liebeskummer hatte er keine Zeit. Das Ganze ging ohne Komplikationen ab, weil keine Kinder im Spiel waren.
Nun war Nikki allein und reich. Was sollte sie tun? Was konnte sie? Eigentlich gar nichts. Aber sie kannte viele reiche Leute. Sie dachte daran, eine hochkarätige Catering-Firma zu gründen, nur gab es davon schon eine ganze Reihe.
Sie wußte, daß es in Schweden Leute gab, die Wert darauf legten, bequem, schnell und diskret reisen zu können, wenn es ihnen gerade einfiel. Sie hatte keine Eile. Sie beriet sich mit einer ehemaligen Nachtclubkönigin,