Der sechste Passagier. Theodor Kallifatides

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Der sechste Passagier - Theodor Kallifatides

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Duft verbreitete, dessen Namen noch niemand hatte ergründen können, wirkte jetzt nachlässig, war achtlos geschminkt, hatte geschwollene Augenlider und einen flackernden Blick. Jeder konnte sehen, daß es sie eine übermenschliche Anstrengung kostete, nicht zusammenzubrechen. Der Richter hatte versucht, mit ihr zu reden, aber es entsprach ihrem japanischen Naturell, alles für sich zu behalten. Die Fassade mußte intakt bleiben, Zähigkeit und Langmut waren oberstes Gebot. Was sie quälte, blieb ein Geheimnis, aber es führte sie jeden Tag ein Stückchen näher an den Zusammenbruch heran.

      Da war es wohl kaum verwunderlich, daß sie keine Kraft übrig hatte, um sich für einen unbekannten Jungen zu interessieren.

      Kristina hatte Verständnis für sie. Sie verstand auch Thomas Roth, der meinte, daß diejenigen, die schon genug reale Straftaten aufzuklären hatten, ihre Energie nicht an ein eingebildetes Verbrechen verschwenden sollten. Sogar Östen, der gewöhnlich für sie Partei ergriff, schien diesmal ein wenig auf Distanz zu gehen.

      Sie beschloß, die Situation zu bereinigen. Sie wollte nicht als eigensinnig gelten, sie war auf die Unterstützung und die Freundschaft dieser Männer angewiesen. Deshalb berief sie eine Sitzung in ihrem Zimmer ein und stellte die entscheidende Frage.

      Sprach irgend etwas dafür, den Fall weiter zu bearbeiten?

      Thomas legte noch einmal seinen Standpunkt dar, und Östen ergriff jetzt unverblümt für ihn Partei.

      Maria Valetieri fuhr aus der Haut. Sie warf den Kollegen Gefühllosigkeit vor. Was hieß das überhaupt, »ein unbekannter Junge«? Irgendwo hatte eine Frau ihn zur Welt gebracht, ihn gestillt, ihn geliebt. Für irgend jemanden war dieser Junge alles andere als unbekannt.

      Sie konnte nicht weitersprechen. Sie brach in Tränen aus und verließ das Zimmer.

      Es wurde still.

      Kristina ahnte, daß es ihr eigentlich um etwas anderes ging, aber dies war nicht der richtige Moment, um sich danach zu erkundigen.

      Da hatte sie also plötzlich zwei Verpflichtungen. Sie durfte den unbekannten Jungen nicht im Stich lassen, und Maria auch nicht.

      Die einzige Lösung war ein Kompromiß. Maria und sie würden weitermachen. Die beiden Männer konnten sich anderen Aufgaben widmen, von denen es ja genügend gab. Wenn sie ihre Hilfe brauchte, würde sie pfeifen, sagte sie.

      Die Männer wußten sehr wohl, daß sie das nicht tun würde.

      Sie fand Maria in der Cafeteria. Sie saß fast versteckt hinter einer Pflanze von grotesken Ausmaßen, vermutlich so ein Monstergewächs, das nach und nach den ganzen Raum überwuchern würde, wenn man es nicht zweimal jährlich beschnitt.

      Maria hatte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände gestützt. Sie sah aus wie ein Kind, und Kristina zögerte einen Augenblick. Vielleicht sollte sie sich nicht bemerkbar machen. Fast alle Kinder haben das Problem, daß man sie nicht in Ruhe trauern läßt.

      Sie ließ Maria in Frieden, was auch immer es war, worüber sie trauerte. Aber sie ging nicht weg. Sie holte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich an einen entfernten Tisch und nahm ihr Buch zur Hand, dessen Einband sie unter einer schwarzen Plastikfolie verborgen hatte, um kein Aufsehen zu erregen und nicht als Snob zu gelten.

      Wenn jemand sie fragte, was sie gerade las, pflegte sie zu antworten, es sei ein Kitschroman, nur so zum Zeitvertreib. Auf die meisten Frager hatte diese Auskunft eine merkwürdig beruhigende Wirkung.

      Sie schlug das Kapitel über die Trauer auf, in dem der Verfasser schrieb, daß der Mensch weniger trauern würde, wenn er die Trauer nicht als Pflicht betrachtete.

      Trauern sei eine Verpflichtung, sich zu freuen dagegen nicht. Weiter war sie noch nicht gekommen.

      Das Licht im Raum wuchs, so unmerklich, wie Fingernägel wachsen.

      Maria stand auf und ging weg, ohne ihre Chefin zu bemerken. Das war auch nicht wichtig.

      Wichtig war nur, daß die Chefin dort saß.

      13

      Am nächsten Tag kam ein Anruf vom Krankenhaus Huddinge. Eine einfache Frage. Was sollte mit der Leiche des unbekannten Jungen geschehen?

      Die anderen Opfer waren von ihren Angehörigen abgeholt worden. Jetzt war nur noch der Junge übrig, und das Krankenhaus konnte den Körper nicht beliebig lange aufbewahren.

      Auch für Kristina war die Situation neu. Sie fragte, ob es für solche Angelegenheiten eine vorgeschriebene Routine gäbe.

      Natürlich, eine Routine gab es für alles und jedes. Wenn die Polizei von einem Verbrechen ausging, konnte sie beantragen, daß der Leichnam aufbewahrt wurde. Wenn nicht, würde er im Beisein des Krankenhauspfarrers eingeäschert werden.

      Die Frage war, mit anderen Worten, ob Kristina den Verdacht auf ein Verbrechen plausibel machen konnte. Das konnte sie nicht.

      »Steht schon fest, wann die Einäscherung stattfinden soll?«

      »Nicht genau, aber es wird sicher irgendwann unter der Woche sein, wenn der Krankenhauspfarrer Zeit hat.«

      Kristina sagte, sie würde wieder anrufen, spätestens am folgenden Tag.

      Sie hätte gern gewußt, wie der Junge an Bord des verunglückten Flugzeugs gekommen war, wer ihn mitgenommen hatte und warum – aber sie hatte keine Gründe dafür, ein Verbrechen zu vermuten, und hätte sie welche gehabt, wären sie ziemlich irrational gewesen. Sie hatte nur das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Reichte das aus?

      Sie dachte daran, mit der Staatsanwältin zu telefonieren, überlegte es sich dann aber anders. Sie würde sie besuchen. Sie brauchte einen Spaziergang, um ihre Argumente zu schärfen, sie wußte, daß Mitsuko zuviel zu tun hatte und nicht bereit sein würde, Zeit und Ressourcen in eine Gespensterjagd zu investieren.

      Mitsuko saß in ihrem ungemütlichen Büro. Durch das einzige Fenster war ein Garagentor zu sehen, auf das jemand in riesigen Buchstaben das Wort Pimmel gesprüht hatte. Man sah deutlich, daß sie geweint hatte. Ihr sonst so sanfter Blick war stumpf. Sie bemühte sich nicht einmal, es zu verbergen. Kristina entschuldigte sich und wollte wieder gehen, aber Mitsuko hielt sie zurück.

      »Was kann ich für Sie tun?«

      »Könnte man den Antrag stellen, daß die Leiche bis auf weiteres aufbewahrt wird?«

      »Weshalb?«

      Kristina sprach von ihren Ahnungen, davon, daß etwas nicht stimmte, aber plötzlich wurde ihr klar, wie lächerlich das klang.

      Zugleich hatte sie den Eindruck, daß Mitsuko beunruhigt war, in ihrer Stimme schwang so etwas wie Furcht mit.

      Zwischen ihnen schien der Boden vermint zu sein. Für zwei vollkommen vernunftgeleitete Geschöpfe wäre die Sache gleich erledigt gewesen. Mitsuko hätte alles mit einer Handbewegung abtun können: Keine Gespensterjagd, wir haben genug andere Probleme.

      Sie waren aber nicht vollkommen vernunftgeleitet. Sie waren ganz einfach zwei Wesen, die einander beschnupperten und etwas wahrnahmen, das sie nicht in Worte fassen konnten, und die Luft zwischen ihnen vibrierte von unausgesprochenen Mitteilungen.

      Es war Mitsuko, die als erste einen Entschluß

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