Der Mann, der alles sah. Deborah Levy

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Der Mann, der alles sah - Deborah  Levy

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eine Röntgenuntersuchung für Sie organisieren, wenn Sie möchten.«

      »Nein!« Ich schlug ihm so heftig auf die Schulter, dass er lachte.

      »Sie sind stärker, als Sie aussehen.«

      Das hatte er wohl nicht ernst gemeint, weil er mich wegstieß, als ich ihm meine Tasche abzunehmen versuchte.

      In einiger Entfernung ratterte eine Straßenbahn vorbei.

      »Setzen Sie sich, Saul.« Walter zeigte auf eine Steinstufe vor dem Eingang eines der Wohnblöcke.

      Wie befohlen setzte ich mich auf die Stufe. Er setzte sich neben mich, meine Tasche zwischen den Knien. Alles war friedlich und ruhig. Ich bemerkte, dass Walter jetzt eine Brille aufgesetzt hatte und seine Zeitung las. Der Himmel hatte sich verdüstert, und sein linker Arm ruhte auf meinen Schultern. Ich war glücklich. Unerklärlich glücklich. Es fühlte sich an wie in dem Moment, als ich mit dem illegalen Pudel auf dem Schoß auf Mrs Stechlers Sofa gesessen hatte. Wir saßen lange dort.

      Nach einer Weile klopfte er mir auf die Schulter.

      »Erzählen Sie mir von Ihrem Unfall.«

      Ich fing an zu reden. Ich hörte mich Gedanken äußern, von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie hegte. Ich erzählte Walter, was mich auf der Abbey Road wirklich beunruhigt hätte, sei der Umstand, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben sei, als ich zwölf war. Irgendwie, irrationalerweise, kam mir der Gedanke, dass Wolfgang – so hieß der Fahrer, teilte ich ihm mit – dieselbe Person sein könnte, die auch sie getötet hatte.

      »Das ist eine verständliche Befürchtung«, sagte Walter.

      Ich erzählte ihm, dass meine Hände zu zittern begonnen hätten, als ich zum Ort des Unfalls zurückgekehrt sei, und dass ich mit der Frau, die mich um Feuer für ihre Zigarette gebeten hatte, auf der Mauer gesessen hätte. Das Zittern, so erzählte ich ihm, habe mit der Erinnerung an die ersten Sekunden zu tun, nachdem ich die Nachricht bekommen hatte, dass meine Mutter gestorben sei und nie wieder nach Hause kommen würde. Und mit einer weiteren Erinnerung an das Begreifen, dass das bedeutete, ich musste mit meinem Vater und meinem Bruder ohne meine Mutter leben, die ihren Körper wie eine menschliche Mauer benutzt hatte, um mich vor ihnen zu schützen.

      »Sie mussten vor Ihrem Vater und Bruder beschützt werden?«

      »Ja. Es waren große Männer. Sie hätten ihnen gefallen.«

      Er schüttelte den Kopf und lachte. »Das glaube ich nicht.«

      »Walter«, sagte ich, »wo ist die Mauer? Ich sehe sie nicht.«

      »Sie ist überall.«

      Ich sagte ihm, dass der tödliche Unfall meiner Mutter und mein kleinerer Unfall sich in meinen Gedanken vermischt hätten und dass ich immer noch unstillbar zornig auf den Fahrer sei, der sie überfahren hatte. Für mich sei er ihr Mörder. Der Tod meiner Mutter sei durch die vergangene Zeit nicht verblasst. Trotzdem hätte ich beim Überqueren der Straße nicht richtig aufgepasst.

      »Ach ja.« Walter faltete seine Zeitung zusammen, zuerst zur Hälfte und dann noch einmal. Als ich seine Finger dabei beobachtete, wie sie die Ecken glattstrichen, bemerkte ich Druckerschwärze von der Zeitung an ihnen. Zufällige Wörter waren aschgrau auf seinen Fingerspitzen verschmiert. In meinem Kopf vernahm ich Tippgeräusche. Auf eine Seite hämmernde Tasten. Als berichtete ich über mich selbst. Herr Adler ist ein unvorsichtiger Mann. Aber das war nicht, was Walter jetzt zu mir sagte.

      »Vielleicht mussten Sie es wiederholen oder so etwas in der Art?«

      »Was wiederholen?«

      »Die Geschichte.«

      Er beugte sich vor und fragte, ob er mir helfen könne, den linken Schnürsenkel zu binden. Er hatte sich auf unserem Spaziergang gelöst. Ich schämte mich unendlich. Er war freundlich und vorurteilsfrei, wie es Fremde manchmal sein können, für gewöhnlich, weil die Geschichte nicht dazwischenfunkte. Ich erhob mich und lief ohne ihn weiter. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, doch ich wollte nicht, dass er meine Tränen sah. Ich war gerade erst angekommen, und da war er, trug meine Tasche und band mir die Schnürsenkel, und jetzt weinte ich. Als er mich einholte, hatte er seine Brille abgesetzt. Auf seinem Nasenrücken war eine Kerbe, dort hatte sich das Plastikgestell eingedrückt.

      »He, Saul, warten Sie auf mich.«

      Er stand neben einer Frau, die eine Holzkiste trug. Es stellte sich heraus, dass darin kleine Blumenkohlköpfe waren. Walter sprach in einem Dialekt mit ihr, den ich nicht verstand. Ich glaube, er gab mir Zeit, mir diskret die Augen zu wischen. Das Problem war, dass meine Augen nicht trocknen wollten. Ich wischte sie ab, und noch mehr Tränen schossen heraus. Ich war äußerst beschämt, weil ich einen so großen Teil meines Kummers in die DDR mitgebracht hatte. Ja, es war wirklich eine große Portion. Ich brauchte meinen Freund Jack, der jedermanns Essen aufaß, um mir etwas abzunehmen. Jacks egoistisches Naturell war das Gegenteil von Walters, obwohl Walter nicht weniger anspruchsvoll war. Er war ganz sicher weniger elegant und weniger aggressiv. Allmählich verstand ich mehr von dem, was er zu der Frau mit der Kiste im Arm sagte. Er redete von Kirschen. Irgendetwas über den Kirschbaum im Garten seiner Familiendatsche. Er hatte auch Blumenkohl gepflanzt, doch der war nicht gediehen. Alle Pflanzen waren eingegangen. Sie schaute in die Luft, irgendwo über meinen Kopf hinweg, doch ich wusste, dass sie mich ansah.

      Ich winkte ihr zu. Sie reagierte nicht, ihr Gesicht war eine steinerne Fassade. Ich begriff plötzlich, dass es gefährlich für sie sein könnte, Kontakt zu Leuten aus dem Westen zu haben. Jemand würde berichten, dass sie zurückgewinkt hatte. Ich konnte keine Bettler oder Junkies oder Zuhälter oder Diebe oder irgendjemanden entdecken, der auf der Straße schlief. Doch der Ausdruck ihrer Augen prägte sich mir ein, wie auch ihre roten Lippen. Würde es mir lieber sein, dass man mir meine Brieftasche stahl, wenn das bedeutete, dass ich einen Fremden ohne Angst begrüßen durfte? Sie und Walter schienen sich zu kennen, weil er sie auf die Wange küsste und sie ihm einen Blumenkohl gab. Walter holte ein rotes Netz aus seiner Manteltasche. Er ließ den Blumenkohl in das Netz fallen und warf es sich über die Schulter.

      »Glück gehabt«, rief er mir zu.

      Wir gingen weiter. Es fiel mir jetzt leichter, weil der Schmerz in meinem Bauch nachgelassen hatte. Ich fragte ihn nach seinem Garten. Er erzählte mir, dass er sich mit Bienenzucht beschäftige, und lud mich ein, ein Wochenende in der Datsche am Stadtrand zu verbringen und es mir selbst anzusehen.

      »Das würde ich sehr gern tun, vielen Dank.« Offenbar waren wir noch weit von der Wohnung seiner Mutter entfernt. Ich fragte ihn, warum seine Schwester Luna hieß.

      »Der Mond ist eine Lichtquelle. Und Luna ist die Lichtquelle für meine Mutter. Ihre erste Tochter hat nicht überlebt.«

      Diese Worte berührten einen Schmerz, der tief in mir war, zusammen mit all den anderen Schmerzen. Wie ein Teich mit schwarzem Wasser. Vom Mond beschienen.

      Wenn ich nicht hinkte, weinte ich. Es war ein schrecklicher Anfang.

      »Ist nicht mehr weit bis zur Kneipe«, sagte Walter, »aber zuerst muss ich den Blumenkohl wegbringen.« Er führte mich durch den Innenhof eines alten steinernen Gebäudes und wies mich an, im Treppenhaus zu warten.

      Wieder saß ich auf den Stufen. Diesmal band ich mir die Schnürsenkel selbst.

      Die Wände des Wohnblocks hatten Einschusslöcher vom letzten Krieg. Mein Vater hätte sich sofort darangemacht,

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