Vanadis. Isolde Kurz
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Isolde Kurz
Vanadis
Der Schicksalsweg einer Frau
Saga
Das Lebendge will ich preisen,
das nach Flammentod sich sehnet
Goethe
Erstes kapitel
Vanadis das Kind
Es war in der Zeit, wo die Frauen noch lange Haare und kurzen Verstand hatten und demgemäß in der Versammlung schweigen mußten, dafür aber von Küche und Alkoven aus desto herzhafter die Welt regierten. In jenen dunklen Tagen, die noch gar nicht so fern sind, wie es heute scheinen mag, wuchs auf einem Herrensitz in nächster Nähe einer süddeutschen Kreisstadt ein kleines Mädchen auf, das den Namen Vanadis trug. Ihr Vater, der Mythenforscher Heinrich Folkwang, hatte ihr gegen den Widerspruch der ganzen Verwandtschaft diesen Namen gegeben, der bei unsern Altvordern soviel wie Göttin oder „Dîs“ der Wanen bedeutete und ein Zuname der Freya war. Nur ein so eigenbrötlerischer und sonderbarer Herr wie dieser Professor Folkwang, sagten die Leute, konnte sich darauf versteifen, ein Kind mit so fremdartigem Namen ins Leben hinauszuschicken. Er war in der Tat ein steifnackiger Gelehrter, von der Waterkant gebürtig, der sich durch Schriften und Vorlesungen mit den Häuptern seiner Zunft verfehdet hatte, worüber ihm eine aussichtsreiche akademische Laufbahn in die Brüche ging. Seit dem frühen Tod seiner entzückenden jungen Frau litt er an zeitweiligen Gemütsstörungen, die sich als Menschenscheu und Schwermut äußerten. Darum war er, dem Drang nach Einsamkeit folgend, zu seinen Schwiegereltern, den van der Mühlens, in das alte Herrenhaus übergesiedelt, den letzten Rest eines ehemals umfang- und ertragreichen Ritterguts, das der jetzige Besitzer, dem es durch Heirat zugefallen war, wegen Schulden stückweise verkauft und der aus ihren alten Toren herausdrängenden Stadt als Baugrund überlassen hatte. Das Haus besaß schöne Verhältnisse und einen stattlichen Aufgang, war aber äußerlich ein wenig herabgekommen, weil die Mittel zur Instandhaltung fehlten. Dagegen bewahrte der Park, den ein alter Gärtner versah, noch die Erinnerung einstigen Glanzes. Da standen herrliche Baumgruppen und steinerne Götterfiguren, die freilich ihre Glieder nicht mehr alle beisammen hatten, und deren schönste, eine Hebe, neben ihrem Sockel im Grase lag, von Moosen überklettert. Was aber diesen Garten von allen anderen Gärten unterschied, war ein Bächlein mit flachen Borden, das fast in gleicher Höhe mit dem Rasen hinlief, das Anwesen in zwei Hälften schnitt, und das den wilden Knaben des Hauses Folkwang, solange sie klein waren, eine gern benützte Gelegenheit zum Hineinfallen gab. Ein Brücklein überspannte es und führte in den Waldgrund hinüber, das Überbleibsel eines bedeutenden Forstes, den Herr van der Mühlen bei Geldknappheit nach und nach hatte schlagen lassen. Dieser einst sehr lebenslustige Herr kam in der Zeit, wo unsere Geschichte beginnt – das war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts –, nur noch selten aus seinem Zimmer im oberen Stockwerk herunter und glitt alsdann wie sein eigenes Gespenst durchs Haus. Er war schwachsinnig geworden und vergaß immer wieder, daß die lärmende Jugend unten im Garten seines Blutes war, wie oft seine noch sehr lebensvolle Gemahlin, die geliebte Schutzgöttin der Kinderschar, ihn an diese Tatsache erinnerte. Nur die kleine Vanadis kannte er als seine Enkelin. Sie brachte ihm zuweilen einen Strauß Blumen aufs Zimmer, worüber er eine närrische Freude bezeigte. Sie war ein eigenes Geschöpf, die kleine Vanadis oder Vana, wie sie sich selber nannte. Um sich vor der Wildheit der Knaben, die sie auf Schritt und Tritt bedrängten, zu retten, schuf sie sich eine eigene abseitige Welt. Wenn der Vater seinen Spaziergang machte, schmuggelte sie sich in sein Zimmer, um, was ihr von seinen Büchern dem Titel oder den Abbildungen nach verlockend war, vom Bord zu stehlen, denn sie hatte viel früher als andere Kinder lesen gelernt. Mit ihrem Raub flüchtete sie unter die niederhängenden Zweige einer gewaltigen Zeder, die ihr fernab vom Tohuwabohu der Brüder ein häusliches Obdach bot, und verschlang wahllos, was sie ergattert hatte. Sie nannte diese Zuflucht „Schloß Tronje“ und den umgebenden Moosgrund mit Leberblümchen und Steinnelken den „Garten Immerschön“. Das Gelesene erzählte sie der großen Lumpenpuppe, die sie überall mit sich trug. Sie besaß zwar Puppen in Menge, aber sie spielte mit keiner andern. Nur für diese eine aus Werg und Zeuglappen war sie auf den ersten Blick erglüht. Und doch konnte man nichts Häßlicheres sehen als diese Puppe: Mund, Kinn und Nase waren aus Stoff gezupft und genäht, die Augen bestanden aus flachen schwarzen Perlen und funkelten mitunter ganz schreckhaft, daß das kleine Ding ein dämonisches Ansehen bekam. Eine rote Mütze machte sie noch häßlicher. Überdies war sie von den wilden Griffen der Brüder in der Mitte eingeknickt, so daß sie, wollte man sie frei halten, vornüber sank. Vanadis liebte sie ob dieses Leibschadens nur noch mehr, wie eine Mutter ihr krankes Kind vor allen andern bevorzugt.
Was kommt der Wirkung gleich, die ein den elterlichen Garten durchströmendes Wasser auf die kindliche Phantasie auszuüben vermag! Es war ein bewegliches Eigentum inmitten eines unbeweglichen, es kam und ging ohne Unterlaß, war nicht zu halten und war doch immer da. Innerhalb und außerhalb des van der Mühlenschen Gutes hieß dieses Wässerlein von jeher nur „der Bach“. Die kleine Vanadis gab ihm einen Namen; nach seiner leisen, singenden Stimme nannte sie ihn das „Bächlein Lirili“. Er gab ihr mit seinem eilenden Gang, der aus dem Unbekannten kam und ins Unbekannte ging, die sehnsüchtige Ahnung der Ferne. Wenn sie eine Blume hineinwarf, so lief sie jubelnd mit, sah sie diese dann in dem schmalen Durchbruch der Mauer, durch die das Bächlein hinausströmte, verschwinden, so stand sie bestürzt und traurig. Das Empfinden des Unaufhaltsamen und Vergänglichen war dann unbewußt über ihr. Das Bächlein Lirili senkte ihr den ersten Keim zu jenem Fernweh in die Seele, das immer die Heimat im Unerreichbaren suchen muß. Das tiefste und geheimste Wunschziel des Kindes war die „Selige Insel“. Sie lag ihr im Sinn, seit sie einmal ihren Vater hatte gegen den älteren Bruder äußern hören, die Alten hätten tief im Westen, wo die Sonne vom Tageslauf rastet, die Inseln der Seligen gesucht. Wort und Vorstellung ließen sie nicht mehr los, und die dort badende Sonne mußte sie sich als etwas Leibhaftes, wenn auch Unfaßbares, vorstellen. Dorthin ging ihr Sinnen; mit der Lieblingspuppe dort zu wohnen, wo weder die Unarten der schrecklichen Jungen noch Tante Fannys kreischende Stimme sie erreichen konnte, das war der Traum ihres jungen Lebens. Das Kind hatte nicht wie andere kleine Mädchen den Trieb, die Puppe immer neu zu kleiden, das wäre auch bei deren eigentümlicher Beschaffenheit, der es an einer fest abgegrenzten Leiblichkeit gebrach, schwierig gewesen. Dagegen ersann sie ihr immerzu neue Namen, geistige Gewänder, mit denen sie wechselte. Denn das Namengeben war ihre besondere Stärke, und diese mußten entweder hochromantisch sein wie Filomene oder Blanchefleur oder ganz und gar seltsam und selbstgebildet: die tiefe Zärtlichkeit, womit das Kind diese Unnamen sprach, gab ihnen den seelischen Wohlklang. Mit ihrem ursprünglichen Namen aber hieß diese Puppe Vana, wie die Herrin selbst, deren zweites Ich sie war. Der große Vorzug, den sie nicht nur vor den anderen Puppen, sondern auch vor den lebenden Spielkameraden genoß, erregte die Eifersucht und den grimmigen Haß der Brüder. Diese hatten sie „Lumbell“ benamst und sangen Spottlieder auf sie, und die beständige Jagd, die sie auf die Lumbell machten, war der hauptsächlichste Anlaß für die Kleine, sich mit der Puppe auf das feste Schloß Tronje zu retten, wohin die wilde Rotte sich nicht leicht verlief.
Es war ein sonnig-kühler Tag zu Anfang März, um Schloß Tronje her wuchsen die ersten Veilchen. Da saß die Kleine mit ihrer Geliebten in der Schloßkemenate, das heißt in den höheren Zweigen der Zeder, und tröstete sie über ein im Vorübergehen zugeflogenes Spottwort:
„Sie sind wieder sehr ungezogen gegen dich gewesen. Die Jungen, siehst du, sind solch ein häßliches Volk, Gott sollte gar keine erschaffen. Gunther meine ich nicht, der ist gut. Aber den andern muß man aus dem Weg bleiben. Sie meinen: ein Mädchen muß sich alles gefallen lassen, dafür ist es ein Mädchen. Nein, das wird uns jetzt zuviel. Morgen gehen wir ganz leise fort, dann sollen sie uns suchen. Wir reisen nach der Seligen Insel. Das ist die grünste, grünste Wiese mit wundervollen Bäumen mitten im Wasser wie ein großer grüner Smaragd, der von den schönsten Diamanten umgeben ist. So wie Großmutters allerschönster Ring. Niemand darf dort wohnen als wir beide. Damit keine bösen Jungen da hinkommen können, brausen die Wellen so hoch um die Insel – o so hoch!