Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte - Roy Jacobsen страница 5
Es machte Spaß, in die gemischte Klasse zu gehen, auch wenn die hübschesten Mädchen in den reinen Mädchenklassen saßen, denn es ist ja oft so, je besser du andere kennenlernst, um so mehr Fehler haben sie. Aber hier konnte ich meinen Blick auf den schwarzen wallenden Haaren von Tanja ruhen lassen, die noch immer ein ziemliches Mysterium war, weil sie niemals etwas sagte und auf Fragen in einer Tonlage antwortete, bei der selbst Lehrerin Henriksen den Versuch aufgegeben hatte, sie lauter zu drehen. Aber sie drehte sich doch immer um, wenn ich etwas sagte, und bedachte mich dann mit einem kleinen Lächeln, das dafür sorgte, dass ich eigentlich nicht mehr zu leben brauchte; angeblich war sie Zigeunerin und wohnte in einem Zirkuswagen beim botanischen Garten in Tøyen, und das machte die Sache nicht einfacher, denn was ist verlockender als ein Volk, das mit der Gitarre um den ganzen Erdball zieht und stiehlt und Karussells laufen lässt?
Deshalb war es so gekommen, dass ich vor allem aufzeigte, damit Tanja sich umdrehte, und das versuchte ich auch an diesem Tag, zudem wollte ich das ganze Gewusel loswerden, das noch immer in meinem Kopf herumblubberte. Aber statt mit irgendeinem Witz zu brillieren, erkannte ich zu spät, dass ich dieses eine Mal meine Aufgaben nicht gemacht hatte, und ich brach in heftiges und unbegreifliches Weinen aus. Als das erst angefangen hatte, konnte ich es auch nicht in den Griff bekommen, ich hing wie ein Witz über meinem Tisch und heulte wie blöd, seltsamerweise bereits jetzt in dem vollen Bewusstsein, dass diese Sache mich teuer zu stehen kommen würde, und das machte die Sache ja auch nicht besser.
»Aber Finn, Lieber, was ist denn los?«
»Ich weiß nicht!«, schrie ich wahrheitsgemäß, und an sich war ich mit dieser Antwort ziemlich zufrieden, denn was, wenn mir die Wahrheit herausgeplatzt wäre: Mit meiner Mutter stimmt etwas nicht!
Die Lehrerin zog mich auf den Gang hinaus und konnte mich so weit beruhigen, dass ich verstand, was sie sagte; sie wollte mir einen Brief mit nach Hause geben und sich erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Aber dagegen protestierte ich so energisch – mit einem neuen Tränenstrom –, dass sie abermals warten musste, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte, während ich an der Wand nach unten glitt und sitzen blieb und durch den menschenleeren Gang starrte, der mir vorkam wie das Echo in einem Krankenhaus, wo alle Kinder lautlos lachen und die Toten schon Flügel haben und Frau Henriksen, mit der ich normalerweise gut zurechtkam, plötzlich fragte:
»Hast du etwas gesehen?«
Ich fuhr zusammen.
»Was denn gesehen?«
»Nein, nein, ich meinte nur, ob du vielleicht ... etwas gesehen haben könntest.«
»Was denn gesehen?«, rief ich noch einmal, und der Abgrund unter mir klaffte noch weiter, denn nun war nicht nur meine Mutter anders und seltsam geworden, ich hatte es vielleicht auch gewusst, hätte es voraussehen können. »Ich hab keinen Scheiß gesehen!«, brüllte ich.
»Ganz ruhig, Finn«, sagte Frau Henriksen, nicht mehr so tröstlich, sondern eher überdrüssig, und ich saß da mit einigen plötzlichen Erinnerungen oder Wörtern im Kopf, Mutter und ich, die Wörter sammelten und darüber lachten oder sie leiden mochten oder sie dumm oder überflüssig fanden, Wörter, die so wirklich waren, dass man sie anfassen konnte, wie Beton und Auspuffgase, Piassava, Benzin, Leder, Jute ... Ich fiel in einen blauen Traum, in dem ich auf meinem neuen Rodelbrett fahren wollte, und ich weinte und quengelte, bis Mutter mich an der Hand nahm und mich mit wütendem Griff zu der Rodelbahn zog, die vom Trondhjemsvei den Hang hinunter führte; aber dort gab es keinen welligen klaren Fluss aus kaltem Glas mehr, sondern nur eine braune Lehmspur wie geronnenes Nasenblut in einem zerschlagenen Gesicht.
»Verstehst du jetzt?«, rief sie mit einer so schrillen Stimme, dass es meinen Ohren wehtat. »Der Winter ist vorbei! Jetzt ist Frühling!«
»Gehen wir wieder rein?«, fragte Frau Henriksen.
Ich schaute zu ihr auf.
»Ja«, sagte ich, stand auf und versuchte auszusehen, als ob wir in den vergangenen Minuten ein Abkommen getroffen hätten, als ob eigentlich rein gar nichts geschehen sei.
Aber die Nachricht meines Zusammenbruchs hatte natürlich den Schulhof erreicht und Anne-Berits Lächeln auf dem Nachhauseweg war nicht misszuverstehen. Jetzt waren Gelb und Blau aufgestanden – Rot ließ sich nicht sehen – und saßen vor ihren Hütten und tranken aus blanken Kannen und riefen, wir sollten zu Besuch kommen, damit Blau uns sein Eichhörnchen zeigen könnte, worauf Anne-Berit in ein seltsames Kichern ausbrach.
»Mörder!«, rief ich aus voller Kehle. Blau sprang auf und machte den Hitler-Gruß und brüllte etwas, das wir nicht hörten, denn wir liefen um unser Leben zur Jugendherberge hoch und kamen erst zur Ruhe, als wir am Tennisplatz vorüber waren, wo ich entdeckte, dass einige von meinen Kumpels ein Feuer machten, und ich fragte Anne-Berit, ob sie mitkommen wollte.
Sie blieb stehen und musterte mich forschend und erwähnte zuerst, dass ihre Mutter es nicht mochte, wenn ihre Kleider nach Rauch stanken, schon gar nicht nach dem von Teerpappe, dass ich schon genug Lehm an den Schuhen hätte und allerlei anderen Unfug, für ihre Verhältnisse ungewöhnlich redselig, deshalb glaubte ich, sie habe meinen Zusammenbruch schon vergessen.
Aber später am Abend hörte ich die Türklingel, und Frau Syversen kam herein und führte ein leises Gespräch mit meiner Mutter, die gleich danach herüberlief und mit übereinandergeschlagenen Armen in die neue Türöffnung trat und mich wie einen Fremden musterte, als ich abermals auf dem Bett lag und zu lesen versuchte.
»Was ist eigentlich in letzter Zeit mit dir los?«, fragte sie so gelassen, dass ich nicht einfach abwehren konnte. Aber ich konnte auch sonst nicht viel tun, deshalb blieb ich liegen und starrte in mein Comic-Heft, bis die Situation einem Stellungskrieg ähnelte – hatte ich vielleicht doch etwas gesehen?
Aber auch jetzt tat sie nicht das, was eine Mutter tun sollte, um einen verlorenen Sohn heimzuholen, sie schüttelte nur melancholisch ihre Locken und ging wieder in die Küche. Aber sie ließ die Tür offenstehen, die Tür zum Untermieterzimmer, die Frank eingebaut hatte, und die Wohnzimmertür, deshalb konnte ich hören, dass sie mit Spülen anfing, was meine Aufgabe war und meistens auch eine Pflicht, vor der ich mich nicht drücken konnte, während sie abtrocknete und wegräumte.
Ich warf die Zeitschrift zur Seite und ging in die Küche und schob sie vom Spülbecken weg, aber dieses eine Mal spritzte ich nicht und fuchtelte auch nicht mit der Spülbürste herum, mit dem Ergebnis, dass wir dort standen wie ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, und Milchgläser und Teller und Gabeln spülten und abtrockneten, im Wettbewerb um die große Goldmedaille für das längste Schweigen, das jemals hier in dieser Wohnung geherrscht hat.
Aber ich hatte für diesen Tag genug geflennt, das merkte ich, deshalb hielt ich durch, bis ich merkte, verdammt, jetzt pruste ich gleich los. In diesem Moment schlug ich mit der Bürste in das verdreckte Wasser, so dass es ihr ins Gesicht spritzte. Sie fuhr zurück und heulte wütend auf, riss sich dann aber zusammen und blieb mit seltsamer düsterer Miene stehen, die eine Hand auf die Hüfte gestützt, die andere vor die Augen geschlagen, dann ließ sie sich auf den nächstbesten Küchenstuhl sinken und sagte mit apathischer Miene, während ihr das Seifenwasser aus den Haaren lief:
»Du hast eine Schwester.«
»Hä?«
»Eine Halbschwester.«
Dazu gab es nicht sehr viel zu sagen. Ich wusste doch von dieser Schwester, die irgendwo dort draußen in der Welt herumsaß