Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen
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Читать онлайн книгу Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte - Roy Jacobsen страница 6
»Ja.«
Ja. Die Friseuse. Ingrid Olaussen, die übrigens nicht Ingrid Olaussen hieß, war die Mutter dieses Mädchens, das Linda hieß und sechs Jahre alt war, und sie hatte unsere Anzeige in der Zeitung gesehen, weil wir so dumm gewesen waren, keine Chiffre zu nehmen, sondern unseren Namen, aber wer zum Henker denkt auch an sowas?
»Chiffre?«
Die nächste Auskunft kam nicht so rasch. Mutter musste sich zuerst abtrocknen. Das erledigte sie im Badezimmer, lange und sorgfältig, während ich auf dem Fußschemel stand, wozu ich eigentlich zu groß war, und die Spülbürste anstarrte, mit der ich im fahlen Seifenwasser langsame Kreise zog, bis mir schwindlig wurde und sie wieder aus dem Badezimmer kam und die Schminke entfernt hatte, die im Schuhladen nötig war und so aussah, wie sie am Wochenende immer aussah, wenn wir nur zu zweit waren, dann war sie auch am hübschesten.
»Aber sie kann sich nicht um sie kümmern«, sagte sie und verstummte. Und ich musste wieder auf meinem Piedestal stehen und grübeln und leiden und mit der Bürste wedeln, bis die Fortsetzung kam, denn ich brachte es noch immer nicht über mich zu fragen, und sie sprach so langsam und behutsam mit mir, wie man einem Säugling Medizin einflößt, sie erzählte, dass Ingrid Olaussen nicht nur Witwe war, sondern auch drogensüchtig, zum ersten Mal hörte ich dieses Wort, sie war Morphinistin, na gut.
»Und das erzähle ich nur, weil ich weiß, dass du groß genug bist, um es zu verstehen«, sagte Mutter. »Wenn du dir die Sache erst genauer überlegt hast.«
Aber:
»Soll die hier wohnen?!«
Endlich ging es mir auf. »Du hast es die ganze Zeit gewusst!«, rief ich plötzlich wütend. »Wir haben renoviert und einen eigenen Eingang machen lassen, weil sie hier wohnen sollen!«
»Nein, nein«, fiel sie mir ins Wort, erst jetzt auf eine Weise, die Vertrauen erweckte, wonach ich ein starkes Bedürfnis hatte. »Sie kann sich nicht um die Kleine kümmern. Ich habe mich erkundigt und ... sie kommt ins Waisenhaus, wenn nicht ...«
»Sie soll also hier wohnen?«
Mutter saß bewegungslos da, schien aber trotzdem zu nicken. »Wir kriegen keinen Untermieter«, fragte ich verzweifelt weiter.
»Das schon ...«
»Wir kriegen einen Untermieter und eine Schwester?«
»Ja.«
»Aber nicht die Friseuse?«
»Sie ist keine Friseuse, Finn! Nein, sie muss in Behandlung, ich weiß nicht ...«
»Dann soll sie nicht hier wohnen!«
»Nein!, sag ich doch. Und jetzt hörst du zu!«
Zehn Minuten später. Mutter sitzt auf dem neuen Sofa mit einer Tasse Liptons Tee und ich im Sessel mit einer Flasche Solo, obwohl es doch mitten in der Woche ist. Wir fühlen uns wohler als irgendwann in den letzten zehn Minuten. Wir sind auf einer Wellenlänge. Einer neuen Wellenlänge, denn ich bin noch immer ein anderer, bin nur ein wenig mehr daran gewöhnt, es hängt mit Mutters plötzlicher Vertraulichkeit zusammen, denn auch sie ist eine andere, wir sind zwei Fremde, die hier sitzen und vernünftig darüber reden, wie wir eine weitere Fremde in Empfang nehmen sollen, ein sechs Jahre altes Mädchen, das Linda heißt und die Tochter eines Kranführers ist, der zufällig auch mein Vater war.
Ich sehe ein, dass es keine leichte Entscheidung gewesen sein kann, meine Mutter ist in unserem früheren Leben nicht gerade übergelaufen von guten Worten über diese Witwe und ihre Tochter, aber jetzt ist sie offenbar von einem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn getroffen worden; Solidarität würden manche es wohl nennen, aber wir sind nicht von der eingebildeten Sorte, wir haben einen Wohnkredit und sind unergründlich. Und innerhalb dieser beiden Wochen hat Mutter nicht nur die Kosten berechnet, wie sie mir jetzt erzählt, sie hat sich auch gefragt, was die Leute sagen werden, wenn wir sie nicht aufnehmen. Und wie würden wir uns dann fühlen? Und wie würde es der Kleinen im Waisenhaus ergehen? Um nicht zu sagen, wie würde ich später im Leben begreifen: Wäre es nicht vorzuziehen, die Witwe zu sein, die es schaffte, das zu tun, was getan werden musste, statt die zu sein, die das Handtuch warf und sich ihrer Verantwortung entzog, aufgrund von etwas so idiotisch selbst Verschuldetem wie Drogenmissbrauch?
Hier roch es ganz einfach nach einem Sieg, für Mutter, über die Person, die mit Mutters Kranführer durchgebrannt war und die vielleicht auch die indirekte Ursache dafür gewesen war, dass er gestürzt war, der Mann, dessen Erinnerung Mutter noch immer so wehtat, dass seine Fotos in einer verschlossenen Schublade begraben sein mussten.
Damit muss ich auch über die Frage nachdenken, die noch nicht beantwortet worden ist, die der Waisenrente.
»Nein, von der werden wir wohl nichts zu sehen bekommen«, sagte Mutter, wenn auch mit leicht brüchiger Stimme. »Ich habe nicht vor, sie zu adoptieren. Und ...«
Aber darauf will ich eigentlich nicht hinaus. Ich will auf die Frage hinaus, ob Mutter durch diese neue Aufgabe endlich die Gelegenheit sieht, ihren Wunsch nach einer Tochter zu erfüllen? Aber dann überlege ich mir die Sache anders und halte den Mund, vermutlich, um unser neues Gleichgewicht nicht zu zerstören. Ich trinke meine Limonade und gehe ins andere Zimmer und mache Hausaufgaben, mit offenen Türen, damit wir einander hören können, Mutters leise Haushaltsgeräusche im Wohnzimmer und in der Küche, das Radio mit Abendsonate und Fischereibericht, das bedeutet, dass die Schlafenszeit näherrückt. Ich kann am Bleistift herumnagen und zu dem Block hinüberschauen, in dem Essi wohnt, ich kann aus zusammengekniffenen Augen das Licht in seinem Fenster anstarren, das in diesem Moment gelöscht wird, die Lichter in den Zimmern aller meiner Kumpels, Hansa und Rogern und Greger und Vatten, die Wohnsiedlung, die ein Auge nach dem anderen zukneift, während ich vor der Matchboxreihe auf der Fensterbank sitze und mich aus irgendeinem Grund auf etwas freue, das mir noch vor zwei Wochen als Katastrophe erschienen wäre: eine Schwester, eine kleine Schwester.
4
Aber zuerst musste der Mieter herbeigeschafft werden, unsere neue Einkommensquelle. Und das war noch immer keine Kleinigkeit. Wir bekamen innerhalb von ebenso vielen Tagen drei weitere Besuche: meine Mutter servierte Kaffee und Kuchen für eine junge Frau, die Doris Day ähnelte wie ein Ei dem anderen, die aber zwei verfaulte Zähne hinter ihrem blutroten Lippenstift zeigte, als sie sich vergaß und lächelte, worauf die Verhandlungen ins Stocken gerieten.
Dann erschien ein älterer Mann, der nach Schnaps und etwas undefinierbar Fauligem roch, und der nichts über sich sagen konnte, und obwohl er mit mehr Hundertern winkte, als ich je gesehen hatte, wurde auch er wieder hinauskomplimentiert.
Danach stellte sich noch ein Mann ein, in Hut und Mantel, ein leicht zerstreuter, aber sympathischer Mann, der nach Rasierwasser von der Sorte roch, die Frank sonntags benutzte und von der ich – von Anne-Berit – wusste, dass sie Aqua Velva hieß und dass man sie auch trinken konnte, im Notfall. Er hatte klare, ruhige und farblose Augen, die nicht nur Mutter mit einer gewissen Neugier musterten, sondern auch mich. Er sei Seemann gewesen, sagte er, nun wieder an Land, er arbeite jetzt in der lukrativen Baubranche und brauche eine Zwischenstation, während er sich etwas Eigenes suche.
Wir hatten das Wort »Zwischenstation« noch nie gehört, und auch nicht »etwas Eigenes«. Aber dieser Mann hatte etwas Modernes und Tröstliches, wie ein Gebildeter, erklärte Mutter später. Im Grunde wirkte er ganz einfach normal, oder so, wie wir uns einen Untermieter vorgestellt hatten, abgesehen davon, dass er Hut und Mantel trug, wie ein Filmschauspieler.